Die Bibliothek der verlorenen Bücher
den erhaltenen Notizen erscheinen wie Denkmäler seiner Schwermut: »Eine Welt ist zusammengebrochen, man muss ganz anders schreiben […] die Leute, die damals eine Rolle spielten, jetzt trifft man sie in der Emigration […]. Der Hass auf die ehemaligen Freunde und die ehemaligen Ideen […].« Das klingt beinahe so, als hätte Horváth den Ast herbeigesehnt, der ihm den Schädel einschlug und so von der Mühe befreite, dieses Buch schreiben zu müssen.
Ein ungeschriebenes Werk kann aber auch Ursache für den Tod eines Dichters sein. Wenn ihn das weiße Blatt Papier angrinst und verhöhnt. Wenn die Sprachlosigkeit zur Folter wird. Wenn der gewaltige Plan, der sich im Inneren auftürmt, nur die schiere Unmöglichkeit greifbar macht, der Idee durch Worte und Symbole gerecht zu werden. Was soll der Dichter tun, dessen Existenz sich allein im Schreiben begründet, der aber nicht mehr in der Lage ist, zu schreiben, was die Vision ihm vorgibt – falls es überhaupt eine Vision gibt und nicht nur das Abbild absoluter Leere.
Nehmen wir Hart Crane als Beispiel: Der Gedichtband »White Buildings« und der an T. S. Eliot orientierte Gedichtzyklus »The Bridge« brachten dem Alkoholiker, Homosexuellen und gelegentlichen Zertrümmerer von Wohnungseinrichtungen frühe Anerkennung. 1931 erhielt er ein Stipendium, das ihm die Arbeit an einem neuen, epischen Gedicht ermöglichte. Er reiste nach Mexiko. Er folgte dem Symbol, das in dem neuen Werk vielleicht eine noch wichtigere Rolle spielen würde als in »The Bridge«: der gefiederten Schlange, dem Aztekengott Quetzalquatl. Am 24. April 1932 trat er die Rückreise auf einem Dampfer an, der ihn von Vera Cruz nach New York bringen sollte. Am 27. April sprang er im Pyjama über Bord. Er hinterließ weder Notizen noch Fragmente des Gedichts, das er nicht schreiben konnte.
Zuletzt noch einige Anmerkungen zu Gustave Flaubert – einem weiteren Literaten, der starb, ohne sein Werk vollendet zu haben. Tatsächlich saß er an seinem Schreibtisch in Croisset und hielt die Feder in der Hand, als ein Schlaganfall seinen Kreislauf abwürgte. (Eine pikantere Anekdote berichtet, er sei beim Geschlechtsakt mit seinem Dienstmädchen Suzanne gestorben.) Einer der letzten Texte, an denen er gearbeitet hatte, war die Novelle »Eine Nacht von Don Juan«, die in seinem Roman »Bouvard et Pécuchet« integriert werden sollte. Der ewige Liebhaber und Frauenheld wird hier zunächst von Selbstzweifeln und Depressionen geplagt, ehe er einer liebeshungrigen Nonne zu Diensten ist, die später in seinen Armen stirbt. Von dieser Novelle ist immerhin ein Entwurf überliefert, der in einem Artikel Guy de Maupassants in »La Revue politique et littéraire« aus dem Jahr 1884 enthalten ist und in einigen Ausgaben von »Bouvard et Pécuchet«, dieser verwegenen Annäherung an die kosmische Dummheit des Menschen – die ich eigentlich lieber als eine bedingungslose Lobrede auf den Dilettantismus lese.
»Bouvard et Pécuchet« sollte – so Flauberts Plan – zu einer Überprüfung sämtlicher modernen Ideen führen. Ein wahnwitziges Projekt, das nie vollendet wurde und den Autor von anderen Büchern ablenkte, die er gern geschrieben hätte, wie etwa »Harel-Bey«, das Doppelporträt eines Zivilisierten, der barbarisch wird, und eines Barbaren, der zivilisiert wird. Manchmal sprach Flaubert auch von einem »modernen Pariser Roman«, dessen Fertigstellung ihn fünf oder sechs Jahre kosten würde. Doch die beiden einfältigen Pensionäre Bouvard und Pécuchet, die sich in jedem Kapitel mit einem anderen Hobby befassen, raubten ihm die Zeit und trieben ihn zu immer aufwendigeren Recherchen. Um sich in die Gedankenwelt seiner Figuren hineinzuversetzen, las Flaubert über 1500 Abhandlungen zu Themen wie Archäologie, Pädagogik, Metaphysik und Medizin. Am 15. April 1880 schrieb er seinem Freund Iwan Turgenjew: »B. et P. langweilen mich! & es wird Zeit, dass das ein Ende nimmt, wenn nicht, nehme ich selbst ein Ende.« Drei Wochen später war Flaubert tot.
Die erwähnten Werke füllen höchstens einen halben Meter in den langen Regalen und endlosen Hallen jener Unterabteilung unserer Bibliothek, die sich auf das Ungeschriebene spezialisiert hat. Eines Tages werde ich meine Angst vor den dort hausenden Papiergespenstern überwinden und selbst dem Zeichen des Tigers folgen, das mich zu diesen unheimlichen Sälen führen wird. Einmal möchte ich mit eigenen Augen das perfekte Buch sehen, das
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