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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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absonderliche, traumhafte Atmosphäre tauchen – in die Atmosphäre der hohen Tage. – Es soll sanft einwiegend wirken – und auch in der Leidenschaft noch heiter und schwebend. – Bezirke der reinen Poesie.«
       Jüngst fragte mich ein Besucher, wie man in die »Bezirke der reinen Poesie« gelangen könne und welcher Saal unserer Bibliothek die entsprechenden Werke enthielte. Ich erinnerte mich gleich an eine alte Eselsbrücke, die man mir eingebläut hatte, als ich meine Arbeit als Unter-Unter-Bibliothekar begann. Man erzählte mir, Goethe habe 1799 den Plan gehegt, die Biographie eines Tigers zu schreiben, dessen eingefrorener Kadaver dem Weimarer Herzog Carl August geschickt worden war. Die Biographie wurde nie geschrieben, doch das Bild eines Tigers markiert seither den Weg zu jenem entlegenen Saal, in dem sie mit all den anderen ungeschriebenen Werken aufbewahrt wird. Es heißt, dort fänden sich auch die schönsten und vollkommensten Texte, die je ersonnen wurden. Ich selbst bin nie dort gewesen, da mir dieses Versprechen von Perfektion Angst einflößt. Allen Besuchern, die diesen Ort suchen und ausreichend Proviant dabei haben, empfehle ich: »Folgt nur dem Zeichen des Tigers!«
       In demselben Saal findet man einen weiteren Titel Baudelaires, der bekannt geworden ist, ohne dass ein entsprechend ausgearbeiteter Text vorläge. Es handelt sich um das Pamphlet »Pauvre Belgique« (»Armes Belgien«), eine kolossale Schimpftirade auf den belgischen Kulturbetrieb und die Belgier im Allgemeinen. Baudelaire hatte das Land hassen gelernt, als er dort zwischen 1864 und 1866 literarische Vortragsreisen unternahm, die ohne Erfolg und Wirkung blieben.
       Die literarische Phantasie »Die letzten Tage des Charles Baudelaire« von Bernard-Henry Lévy spielt mit der Vorstellung, dass der Dichter seine Schmähschrift tatsächlich fertigstellte. Das vermeintliche Meisterwerk wird aber unter einem falschen Namen veröffentlicht und bleibt schließlich unerkannt und wirkungslos. In einer eindrucksvollen Passage schildert Lévy, wie sich im Bewusstsein des sterbenden Baudelaire der Keim oder eher der Schatten eines neuen Buches bildet: »Er schreibt nicht. Körperlich – vermutlich auch geistig – ist er unfähig zu schreiben. Wenn er aber schreiben würde, wenn er zwar nicht den Plan eines Buches, aber doch die Sehnsucht danach hätte und wenn jemand in diesen Kopf eindringen könnte, um dort die ersten halbfertigen Bruchstücke von Sätzen zu entziffern, dann wären es Fetzen eines Buches, an das er niemals gedacht hatte. Es wäre das einzige Buch, von dem er immer, sein Leben lang, gewußt hatte, daß er es nie schreiben wollte. Es wäre mit einem Wort – dem allerdings schlagartig das Gewicht der Notwendigkeit zuwächst – ein ›Buch der Erinnerungen‹.«
       Alter, Krankheit und Tod sind nicht selten schuld, dass ein literarisches Werk ungeschrieben bleibt, auch wenn es als Idee und in bestimmten Details vielleicht schon lange durch das Gehirn des Autors spukt. So auch bei William Wordsworth. Das autobiographische Gedicht »The Prelude« (»Präludium«), das der englische Romantiker 1798 begann und bis an sein Lebensende stetig überarbeitete und erweiterte, war nur als Einleitung zu einem weit umfangreicheren gewaltigen Opus gedacht. Das philosophische Gedicht sollte sämtliche Arbeiten des Dichters umfassen und unter dem Titel »The Recluse« (»Der Einsiedler«) veröffentlicht werden. Es blieb jedoch bei vereinzelten Bruchstücken. Wordsworth hatte all die jüngeren Dichter, Byron und Shelley, überlebt, die ihn so oft als Langweiler verspottet hatten, doch auch achtzig Lebensjahre reichten nicht aus, um das anspruchsvolle Projekt zu vollenden.
       Der aus Ungarn stammende Autor und Dramatiker Ödön von Horváth wurde hingegen durch ein frühzeitiges Ableben an der Ausarbeitung seines Werkes gehindert. Ob er den Roman »Adieu, Europa!« geschrieben hätte, wenn ihm nicht am 1. Juni 1938 um
    19 Uhr 30 auf den Champs-Élysées in Paris ein Ast auf den Kopf gefallen wäre, darf aber durchaus bezweifelt werden. Das stark autobiographisch geprägte Konzept seines Romans über Emigration, Rückkehr und erneute Emigration eines beruflich und privat scheiternden Schriftstellers hatte seinen Ursprung in der Trauer und den Depressionen Horváths, seinen Misserfolgen, seiner Geldnot, seinem eigenen Exil, in das ihn lediglich ein kleiner Koffer und eine Schreib maschine begleiteten. Einige Zeilen aus

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