Die Bibliothek der verlorenen Bücher
ausgemerzt werden! Kinder wurden überwacht, für sehnsüchtige Blicke auf grellbunt bedruckte Bücher und Hefte in Schaufensterauslagen zur Rede gestellt und sogar polizeilich verhört. Schulranzen wurden gefilzt, verdächtiges Material konfisziert. Die eingesammelte Literatur wurde demonstrativ verbrannt. Alles vergeblich. Die Groschenhefte blieben unter Kindern und Jugendlichen ebenso populär wie eigentlich alles, was ihre besorgten Erzieher für trivial, ungeeignet oder gefährlich hielten.
Von der wilhelminischen Jagd auf Schund über die nationalsozialistischen Versuche, Weltliteratur zu verhindern, ist es nur ein kleiner Schritt zu der Zukunftsgesellschaft, die Ray Bradbury in seinem ScienceFiction-Roman »Fahrenheit 451« schildert: Hier ist das Lesen generell verboten, und die Feuerwehr rückt aus, um Bücherfunde mit Flammenwerfern zu bekämpfen. Am Ende wird eine Gemeinschaft beschrieben, die sich auf scharfsinnige Weise dem Terror des Regimes entzieht, indem sie sich die List des jungen Racine zu eigen macht. Jedes Mitglied dieser Gemeinschaft lernt ein Werk der Weltliteratur auswendig, das durch mündliche Überlieferung für die nachfolgenden Generationen gerettet werden soll. Diese Geschichte lässt hoffen, dass jedes noch so totalitäre Regime, jeder noch so beschränkte Pädagoge und jeder noch so aufmerksame Zensor früher oder später vor der Phantasie und dem Einfallsreichtum der Leser kapitulieren muss.
Brennende Bibliotheken
F estzuhalten, wie viele einmalige und unersetzliche Manuskripte bei Bibliotheksbränden zerstört wurden, dürfte eine nicht gerade einfach zu lösende Aufgabe sein. Ich will also nur ein wenig über zwei oder drei bedeutende Bibliotheken plaudern, deren Bestand ganz oder teilweise vernichtet wurde. Hierbei sind diejenigen Sammlungen von besonderem Interesse, die vor der Erfindung des Buchdrucks – in Europa im
15. Jahrhundert, in China bereits im 9. Jahrhundert – entstanden und vergingen, weil man davon ausgehen muss, dass die zusammengetragenen Manuskripte – oder zumindest ein wesentlicher Teil davon – für alle Zeiten verloren sind.
Die berühmteste aller brennenden Bibliotheken ist selbstverständlich die Bibliothek von Alexandria, die mit der Bibliothek von Pergamon als wichtigste Schriftrollensammlung der griechisch-römischen Antike gilt. Hier wurden erstmals literarische und wissenschaftliche Werke systematisch gesammelt, katalogisiert, übersetzt und kopiert. Es handelte sich zunächst nicht um eine Bibliothek im modernen Sinne, sondern um eine Mischung aus Akademie, Forschungsstätte und den Musen geweihter Kultstätte – Museíon genannt. Das Museíon wurde 295 v. Chr. von Ptolemaios I. Soter gegründet, einem ehemaligen General Alexanders des Großen, der nach dem Tod seines Kriegsherrn König von Ägypten geworden war. Ptolemaios war wie Alexander und dessen Vater, Philipp von Makedonien, von hellenistischer Kultur und der Lehre des Aristoteles geprägt. Er ließ den Thronfolger von einem Mitglied der aristotelischen Akademie unterrichten und folgte mit der Gründung des Museíon dem Vorbild des Lykeion, der Akademie des Aristoteles. Einige Jahre nach der Gründung des Museíon wurde die Bibliothek angegliedert und unter Ptolemaios II. Philadelphos wesentlich erweitert. Die Sammlung sollte das gesamte griechische Schrifttum umfassen, ergänzt durch Übersetzungen aus dem Hebräischen und Persischen. Über den Umfang ihrer Bestände gibt es widersprüchliche Angaben. Einige Quellen sprechen von bis zu 700000, andere von lediglich 40000 Schriftrollen, die thematisch und alphabetisch in den Regalen oder »Amaria« geordnet und mit Etiketten gekennzeichnet waren.
Angeblich ging die Bibliothek von Alexandria 47 v. Chr. in Flammen auf, als Caesar die ägyptische Flotte in Brand stecken ließ. Wahrscheinlicher ist, dass sie erst 272 n. Chr. im Krieg zwischen dem römischen Kaiser Aurelian und Zenobia von Palmyra zerstört wurde. Einer anderen Legende zufolge wurde die bedeutendste Bibliothek der antiken Welt 640 n. Chr. durch den arabischen Eroberer Emir Amr ibn al-As vernichtet, der auf Befehl des Kalifen Omar alles verbrannte, was der Lehre des Korans widersprach, und mit den wertvollen Schriftrollen die Badehäuser der Stadt heizen ließ. Ob diese Geschichte ihren Ursprung in der Propaganda der christlichen Kreuzfahrer hat, wie einige islamische Gelehrte behaupten, oder der Wahrheit entspricht, bleibt ein Rätsel. Man kann das
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