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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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Falschheit, den Nachweis der Falschheit des echten Katalogs, das gnostische Evangelium des Basilides, den Kommentar zu diesem Evangelium, den Kommentar zum Kommentar dieses Evangeliums, die wahrheitsgetreue Darstellung deines Todes, die Übertragung jeden Buches in sämtliche Sprachen, die Interpolationen jeden Buches in allen Büchern, der Traktat, den Beda hätte schreiben können (und nicht schrieb), über die Mythologie der Sachsen, die verlorenen Bücher des Tacitus.«
       Als ich diese Zeilen zum ersten Mal las, hielt ich sie für einen Tatsachenbericht, da die Bibliothek der verlorenen Bücher eine bescheidene Zweigstelle jener von Babel ist. Ein gebildeter Besucher hat mich jedoch darauf hingewiesen, dass Borges’ Erzählung reine Fiktion ist. Seine »Bibliothek von Babel« sei nur ein spielerischer Versuch, das Universum in einen Raum zu verwandeln, der für den menschlichen Verstand gerade noch fassbar ist. Wenn er recht hat, müsste es zwei Bibliotheken von Babel geben – eine wirklich existierende und eine imaginäre. Oder mein Arbeitsplatz wäre ebenfalls imaginär, und der Besucher hätte mich gar nicht ansprechen können. Ich frage mich auch, wie Borges über das Evangelium des Basilides Bescheid wissen konnte, ohne zuvor die zahlreichen verlorenen Evangelien in unserer Zweigstelle einzusehen. Wie kam er an seine detaillierten Informationen, wenn er uns nie besucht hat?
       Imaginäre Bibliotheken sind also nicht ausschließlich imaginär, und sie erfüllen einen ebenso bedeutsamen Zweck wie reale Bibliotheken: Sie geben oft wertvolle Hinweise auf verlorene Bücher. Sie erschließen Zusammenhänge, die man in systematisch geordneten Sammlungen von Druckwerken und Handschriften vielleicht vergeblich sucht. Sie enthalten durchaus Bücher, die es wirklich gibt, und führen den Leser so von einem Buch zum anderen. Sie verwahren aber auch solche Werke, die niemand kennt, die niemand gelesen hat, die es aber geben könnte und die durch die bloße Erwähnung ihres Titels ein gespenstisches, zuweilen mächtiges Eigenleben entwickeln.
       Die Bibliothek des Don Quijote beispielsweise, die in Cervantes’ Roman im sechsten Kapitel des ersten Teils von dem Pfarrer und dem Barbier weitgehend zerstört wird, war voller Ritter- und Schäferromane, deren Titel uns heute nichts mehr sagen, die aber nichtsdestotrotz im gedruckten Zustand existierten. »Orlando Furioso« von Ludovico Ariosto und »Amadís von Gallien« von Garcí Ordóñez de Montalvo kann man mit etwas Glück heute noch in gutbestückten Büchereien aufspüren. Andere Werke wie »Der Ritter vom Kreuz«, »Don Olivante de Laura« oder »Die Nymphen von Henares« muss man zu den verlorenen Büchern zählen, da sich ihr Weiterleben auf die Anmerkungsapparate und Forschungsarbeiten zum »Don Quijote« beschränkt. Der Pfarrer entdeckt auch ein Exemplar der »Galatea«, eines Jugendwerks des Cervantes, und erwähnt die Fortsetzung, die der Autor immer wieder ankündigte, aber nie veröffentlichte. Den zweiten Teil des bukolischen Liebesreigens findet man in unserem Saal der ungeschriebenen Werke.
       In besagtem Kapitel des »Don Quijote« geht es um das Ausmustern und Verbrennen jener Bücher, die den edlen Herrn de la Mancha um den Verstand brachten, eine Aktion, die Cervantes als bizarre, aber nicht völlig abwegige Form der Literaturkritik darstellt. Indem er den Pfarrer über bestimmte Bücher urteilen lässt, karikiert er die literarischen Vorlieben seiner Zeitgenossen. Einige populäre Werke werden verhöhnt, andere werden – manchmal ironisch, manchmal ernsthaft – gelobt und vor der Vernichtung gerettet. Dies bewahrte sie aber nicht davor, vergessen zu werden. Wer liest schon die »Galatea«?
       Während Cervantes Bücher nennt, die im raschen Wechsel der Lesemoden verschwanden, findet man in der Sankt-Viktories-Bibliothek in Rabelais’ »Gargantua und Pantagruel« die merkwürdigsten Abhandlungen, die im unendlichen Strom gelehrter Publikationen untergingen. Die unkommentierte Aufzählung der Druckwerke, die dem tölpelhaften Riesen Pantagruel ganz besonders gut gefallen, umfasst 150 Titel; darunter so bedeutsame wie der »Beschluß der Universität über die uneingeschränkte Busenfreiheit der Frauen«, »Die Kunst des schicklichen Furzens in Gesellschaft« von Magister Gratius, »Über die Nutzbarkeit der Suppen und das redliche Tun des Becherns« von dem Jakobinermönch Silvester Prieras und die »Höchst scharfsinnige

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