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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

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Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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Problem aber auch aus anderer Perspektive betrachten: »Falls die ungeheuren Papierberge zur Kontroverse über die Vereinbarkeit des Menschlichen und des Göttlichen in Jesus Christus wirklich in den öffentlichen Bädern verheizt wurden«, meinte der britische Historiker Edward Gibbon, »könnte ein Philosoph lächelnd behaupten, dass sie letztendlich doch dem Nutzen der Menschheit gedient hätten.«
       Eng mit der Zeit der Kreuzzüge verbunden ist die oft zum Mythos stilisierte Geschichte des »Alten vom Berge«, des Anführers der Assassinen, die ihren wichtigsten Stützpunkt in der Burgfeste von Alamût hatten. Diese geheimnisvolle Sekte wurde im 13. Jahrhundert für zahllose Meuchelmorde verantwortlich gemacht. Die Attentäter wurden, so die Legende, durch den Genuss von Haschisch inspiriert – daher der arabische Name »al-haschîschiyya« und die europäische Bezeichnung »Assassinen«. Im Drogenrausch erblickten sie ein Paradies, in das sie nach der Bluttat als Märtyrer einziehen würden. Ihren eigenen Tod nahmen sie lächelnd in Kauf. Ursprung dieser verdächtig aktuell klingenden Mär war eine schiitische Sekte, die Ismaeliten, die die direkte Abstammung vom Propheten Mohammed für sich beanspruchten. Alle anderen Auslegungen des Islam waren für sie reine Ketzerei.
       In Alamût befand sich eine riesige Bibliothek mit einzigartigen Manuskripten wie den Aufzeichnungen des Sektengründers Hasan-e Sabbâh. Im Jahr 1256, als die Mongolen im Iran einfielen, wurden die Burgen der Assassinen belagert und schließlich erobert. Alamût fiel im Dezember desselben Jahres, doch der Wesir des Eroberers Hülägü, eines Enkels Dschingis Khans, bat um die Erlaubnis, die große Bibliothek des Alten vom Berge zu sichten, bevor sie von den mongolischen Truppen vernichtet würde. Bei seiner Bestandsaufnahme kam der Wesir zu dem Urteil, dass die Büchersammlung fast ausschließlich ketzerische Schriften enthielt, deren Rettung und Überlieferung nicht wünschenswert sei. Hülägü gab seinen Männern den Befehl, die Festung mit all ihren Geheimnissen und Geistesschätzen in Brand zu stecken.
       Anders als die rätselhafte Bibliothek der Assassinen ging der Bestand der Bibliothek von Alexandria nicht gänzlich verloren, da Kopien der bedeutendsten Werke angefertigt und an kleinere Sammlungen weitergegeben worden waren. Man nimmt allerdings an, dass etwa neunzig Prozent des antiken Schrifttums nicht erhalten sind. Dieser ungeheure Verlust zeigt, dass sich unser Bild der Antike auf nur wenige Quellen stützt. Ich werde später – sobald mir der richtige Weg zu dem entsprechenden Saal wieder einfällt – einige jener Schätze vorstellen, die vor sehr, sehr langer Zeit zum letzten Mal gelesen wurden.
       Was die kostbaren antiken Schriften für die europäische Kultur waren, bedeuteten die bis ins 9. Jahrhundert v. Chr. zurückreichenden schriftlichen Überliefe rungen der Chinesen für die Kulturen Asiens. Viele alte Chroniken, rituelle Text- und Liedersammlungen, literarische und philosophische Werke wurden über die Jahrhunderte hinweg in der kaiserlichen Akademie archiviert, studiert und ausgewertet. Im Jahr 190 n. Chr. wurden die kaiserliche Bibliothek und die HanArchive bei der Plünderung der damaligen Hauptstadt Luoyang durch die Söldnertruppen des Abenteurers Dong Zhuo zerstört. Der Verlust seltener Manuskripte war anscheinend größer als derjenige durch die bereits erwähnten Bücherverbrennungen des ersten QinKaisers. Einige alte Texte, die auf Bambusstreifen aufgezeichnet worden waren, blieben in frühen Abschriften erhalten. Diese und zahllose weitere Kostbarkeiten – unersetzliche historische Dokumente und wertvolle Handschriften, die Krieg und Brandschatzung überdauert hatten – wurden vom 15. Jahrhundert bis zum Ende des 19. Jahrhunderts in der Han-Lin-Bibliothek der neuen kaiserlichen Akademie in Peking gesammelt. Das Gebäude wurde am 22. Juni 1900 von den aufständischen »Boxern«, den Yi He Tuan, während des Kampfes um das Gesandtschaftsviertel angezündet. Die europäischen, japanischen und amerikanischen Verteidiger der Gesandtschaften hatten geglaubt, dass die gegen Missionierung und Ausbeutung rebellierenden »Boxer« niemals die Akademie und deren wertvolle Bibliothek in Brand stecken würden, da die Chinesen den Stellenwert der schriftlichen Überlieferung in ihrer Kultur in der Regel kannten und hochschätzten. Die Aufständischen waren jedoch einfache Bauern, die keinerlei

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