Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Die Bibliothek der verlorenen Bücher

Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
Vom Netzwerk:
Untersuchung, ob eine Chimäre, die im leeren Raum umhersummt, abstrakte Erkenntnisse verspeisen könne, worüber auf dem Konzil von Konstanz zehn Wochen lang disputiert wurde«. Unter den reinen Phantasietiteln in Rabelais’ Verzeichnis sind auch wirklich erschienene Arbeiten versteckt, von denen einige immer noch in Universitätsbibliotheken darauf warten, endlich gelesen zu werden.
       Eigentlich genügt die bloße Erwähnung eines Buchtitels, um den entsprechenden Text in der Phan tasie des Lesers Wirklichkeit werden zu lassen. Jean Pauls Schulmeisterlein Maria Wutz hat es uns vorgemacht. Es besaß nur ein einziges Buch, den Messkatalog, und nahm die darin aufgeführten Titel zum Anlass, die zugehörigen Werke selbst zu verfassen. Bei Tag schenkte es der Welt Sturms »Betrachtungen«, die verbesserte Auflage, Schillers »Räuber« und Kants »Kritik der reinen Vernunft«. Nach dem Abendessen musste das Schulmeisterlein noch »um den Südpol rudern«, um Kapitän Cooks große Reise korrekt darzustellen. So schrieb es sich eigenhändig eine ganze Bibliothek.
       Einmalige Handschriften und allerlei Obskures findet man auch in der denkwürdigen Sammlung des Antiquars und Südseeinsulaners Oh-Oh in Herman Melvilles allegorischem Reiseroman »Mardi«. Interessant sind die in einer düsteren Katakombe aufbewahrten Bücher mit »besorgniserregenden Titeln«: »Fühlen Sie sich sicher?«, »Eine Stimme aus der Tiefe«, »Hoffnung für keinen«, »Feuer für alle«. Diese Traktate stehen für die unzähligen Bekehrungs- und Belehrungsschriften, die in missionarischem Eifer in aller Welt gedruckt und verteilt wurden. Wie viele dieser in wohlmeinender Absicht geschriebenen Texte allein deswegen verlorengingen, weil sich niemand darum bemühte, sie aufzubewahren und zu archivieren, kann unmöglich festgestellt werden. In Oh-Ohs Kollektion alter und kurioser Manuskripte gibt es auch ein paar zerbröselnde, unleserliche Seiten in gotischer Schrift. Sie sind Teil eines Werkes des zu Unrecht vergesse nen Autors Bardianna, von dem nur der Titel »Gedanken eines Denkers« erhalten blieb. »All diese Weisheit soll verloren sein?«, ruft einer der Besucher Oh-Ohs angesichts seines Fundes und beginnt mit einer Tirade auf die Vergänglichkeit der Kunst, des Geistes und der Literatur. Melville selbst war sich dessen stets bewusst, und er war von der Nichtigkeit literarischen Ruhms überzeugt. Vieles von dem, was die Poeten und Philosophen seiner Zeit hervorgebracht, und vieles von dem, was er selber verfasst hatte, erschien ihm so kurzlebig wie das leider verschollene »Sonett auf den letzten Atemzug einer Eintagsfliege«.
       Anders als Oh-Ohs Büchergruft enthält die Bibliothek des Herzogs Jean Des Esseintes, die dieser von seinem Ururgroßonkel Dom Prosper, Prior des Klosters von Saint-Ruf, geerbt hat, einige wirklich geschriebene und gedruckte Bände, die weniger auf die weitreichende Bildung als auf den überzüchteten Geschmack ihres Besitzers verweisen. »Ein Teil der Regale an den Wänden seines orange-blauen Arbeitszimmers war ausschließlich mit lateinischen Werken angefüllt«, schreibt Joris-Karl Huysmans in »À rebours« (»Gegen den Strich«). Der Lieblingsautor des anämischen Dandys ist Petronius; dessen »Satyricon« erscheint ihm als ein »aus dem lebendigen Fleisch des römischen Lebens geschnittener Roman, der, was man auch sagen mag, auf keine Reform oder Satire aus ist und keinem moralischen Zweck dient, diese intrigen- und handlungslose Geschichte, die die Abenteuer des für Sodom reifen Freiwilds schildert, mit ruhigem Scharfsinn Freud und Leid dieser Liebschaften und dieser Pärchen analysiert und in überreicher Sprache ausmalt, ohne daß der Autor ein einziges Mal hervortritt oder das geringste kommentiert, die Vorgänge und Gedanken seiner Gestalten, die Laster einer zusammenbrechenden Zivilisation, eines zerfallenden Reiches billigt oder verflucht«. Des Esseintes’ Sammlung enthält zwar keine verlorenen Bücher, doch trauert er lebhaft um den Verlust von »Eustion« und »Albutia«, Werken des Petronius, die Planciades Fulgentius erwähnt, die aber nicht überliefert sind.
       Nur ein oder zwei Schritte von dem kränklichen Bücherwahn der Décadence entfernt, liegen die imaginären Bibliotheken des klassischen Horrorautors Howard P. Lovecraft. Dieser paranoide Amerikaner erfand (oder entdeckte) den bedrohlichen CthulhuMythos, der von mächtigen Kreaturen spricht, die vor Jahrmillionen

Weitere Kostenlose Bücher