Die Bibliothek der verlorenen Bücher
er eigentlich verfolgte: »Welche ist tatsächlich meine Kunst? Was beabsichtige und wünsche ich, wenn ich sie ausübe?« Er kam zu dem Schluss, dass es nicht nötig sei, ein Werk zu hin terlassen, um als Autor anerkannt zu werden. Seine wahre Kunst bestand darin, ewig auf der Suche zu sein und nur vage Ideale zu finden, die zu fern und zu groß waren, um sie je zu erreichen. Dennoch galt er seinen Zeitgenossen als einer der feinsinnigsten Kritiker und Denker der Epoche.
Ein anderer, psychologischer Grund, warum bestimmte Werke der Weltliteratur nie geschrieben wurden, ist die Schreibblockade. Es herrscht kein Mangel an Ideen, Wissen, Bildung und am Willen, etwas Bedeutsames zu Papier zu bringen, doch bald stellt sich das weiße, unbeschriebene Blatt wie ein alles verschlingender Abgrund der künstlerischen Vision entgegen, und es scheint unmöglich, den richtigen ersten Satz oder auch nur das passende erste Wort zu finden. Man hat durchaus Talent und Neigung zum Schreiben, und doch gibt es keinen erkennbaren Weg, diesen Abgrund zu überwinden.
Doch für jene, die unter Schreibblockaden leiden, gibt es einen Trost. Denn es ist durchaus möglich, einen gewissen literarischen Ruhm zu erlangen, ohne je eine bedeutsame Zeile zu veröffentlichen. Wie der österreichische Journalist Milan Dubrovic in seinen Memoiren eindrucksvoll nachweist, war der Bankbeamte Ernst Polak, der zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Wiener Literatencafes zu seinen Ersatzwohnzimmern machte, möglicherweise einer der wichtigsten »Autoren ohne Werk«, ein Schriftsteller, von dem nichts wirklich Eigenständiges überliefert ist. Er geistert allerdings als Schatten durch die Werke Franz Kafkas – als Bürochef Klamm in »Das Schloß« –, Karl Kraus’, Heimito von Doderers und beeinflusste durch seinen Rat so berühmte Autoren wie Franz Werfel, Max Brod, Paul Kornfeld und Robert Musil.
Obwohl Polak als intelligenter und inspirierender Gesprächspartner und Kritiker geschätzt wurde, konnte er selbst nichts zu Papier bringen, das seinen eigenen Ansprüchen genügte. Wenn er etwas aufschrieb, dann waren es Zitate seiner Freunde, die er bei endlosen Kaffeehausdiskussionen aufschnappte, oder Passagen aus Büchern, die er gerade las. Diese umfangreiche Spruchsammlung, die er in mehreren Mappen aufbewahrte, hütete er wie seinen Augapfel, so als wäre seine ganze Existenz darin enthalten. Für ihn war diese Sammlung wertvoller als ein eigenes Buch, da all die Dinge, die er aus reinem Vergnügen notiert und aufgelesen hatte, mehr über ihn und seine Vorlieben aussagten als irgendwelche Erfindungen.
Polaks Freunde rieten ihm zu einer psychoanalytischen Behandlung, die seine innere Blockade lösen werde. Sie hatten von Hermann Broch gehört, der unfähig gewesen war, etwas zu Papier zu bringen, bis ihn sein Analytiker von einer nicht näher bezeichneten »neurotischen Fixierung« heilte. Kaum genesen, fabrizierte der ehemalige Patient einen Roman in drei voluminösen Bänden. Auch Hermann Hesse, so munkelten die klatschsüchtigen Kaffeehausdichter, habe seinen »Demian« nicht ohne die vorherige Behandlung durch C. G. Jung vollenden können. Doch Polak, der notorische Zweifler, misstraute der Lehre Freuds und hielt die Psychoanalyse für einen Schwindel. (Die Konzentration auf die Sexualität des Menschen erschien ihm zu einseitig. Dabei hatte gerade er bei seinen Bekannten den Ruf eines Frauenhelden und Erotomanen.)
So blieb Ernst Polak also untherapiert, sein Werk ungeschrieben, und was aus seiner umfangreichen Zitatensammlung wurde, weiß ich nicht. Vermutlich verstaubt sie seit Jahrzehnten im Keller eines Literaturarchivs, wo gelegentlich ein kurzsichtiger Germanist über sie stolpert. Lassen wir es dabei. Denn eine Veröffentlichung würde diesen bedeutenden Autor ohne Werk seines Amtes entheben.
Verschlüsselt und verborgen
E s gibt eine Reihe bedeutender Werke, die nur deshalb als verloren gelten, da sie in einer unbekannten oder verschlüsselten Schrift existieren. Ein berühmtes Beispiel ist die fast viertausend Jahre alte PhaistosScheibe, auf der beidseitig und spiralförmig angeordnet 242 rätselhafte Symbole, eingeteilt in 61 Gruppen, zu sehen sind, über deren Bedeutung bis heute höchst widersprüchliche Spekulationen kursieren. Die Zeichen wurden mit Stempeln in die tönerne Scheibe geprägt, was auf einen verbreiteten Gebrauch dieser ältesten bekannten Druckschrift schließen lässt. Sie hat einen
Weitere Kostenlose Bücher