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Die Bibliothek der verlorenen Bücher

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Titel: Die Bibliothek der verlorenen Bücher Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alexander Pechmann
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Durchmesser von 16 Zentimetern und wurde 1908 in einem minoischen Palast auf Kreta gefunden. Einige seriöse Historiker halten die Inschrift für eine Hymne an die Göttin Hera, aber da es keinen Schlüssel zu dem antiken Rätsel gibt, sind der Einbildungskraft der Interpreten keine Grenzen gesetzt. So halten phantasievollere Gemüter den Text für eine Botschaft außerirdischer Götter oder für ein letztes Lebenszeichen des versunkenen Inselreiches Atlantis. Der norwegische Forscher Kjell Aartun liest die Schrift als vorzeitlichen Sexualritus, der mit folgenden Worten beginnt: »Sei tief hineindringend, Lüsterner! / Bewege dich tief hinein, Fisch, (in) deinen Mund! / Mein Gewandter sehnt sich heftig, / Der Tüchtige (ist) für mich glühend. / Bei mir, der träufeln läßt, blase! / (O) von einer glühenden Leidenschaft Erfasster, Lüsterner, mein heißes / Verlangen (ist da)!« Vielleicht ist dies auch der älteste überlieferte Liebesbrief. Es könnte sich aber auch um etwas Gewöhnlicheres handeln: einen Taschenkalender, einen Abzählreim, einen Mietvertrag, eine Gebrauchsanweisung oder eine Einkaufsliste. Hier haben wir das älteste Buch der Welt, und da sich der Text bei jeder Lektüre ändern und jeder Leser seine eigene Wahrheit darin finden kann, ist es auch das größte.
       Hinter dem Geheimnis der Phaistos-Scheibe steckt – wenn es sich nicht um das Werk eines antiken Witzbolds handelt – nicht der Versuch, den Inhalt der Inschrift zu verschleiern. Die Bedeutung der Schriftzeichen war längst verloren, als die Sumerer ihre Keilschrift und die Ägypter ihre Hieroglyphen erfanden. Weitere, heute unübersetzbare Schriftsprachen stammen von den Etruskern und den Iberern. Wie ein bewusstes Spiel mit der Nachwelt erscheint hingegen die Entschlossenheit einiger Autoren, ihre Aufzeichnungen vor der Öffentlichkeit zu verbergen, indem sie eine Geheimschrift verwenden. Warum überhaupt schreiben, denkt der Pragmatiker, wenn niemand es lesen soll? Aber natürlich gibt es immer gute Gründe, etwas zu notieren, das nur der persönlichen Erinnerung oder der Selbstvergewisserung dient und das den Blicken allzu neugieriger Zeitgenossen besser verborgen bleibt. So wird im indischen Liebeslehrbuch »Kâmasutrâ« die verschlüsselte Schrift als eine der 64 Künste gepriesen, die eine Dame von Welt beherrschen sollte, um ihre Affären geheim zu halten.
       Manchmal ist der rätselhafte Code nur ein harmloser Zeitvertreib. »Niemand wird dies lesen«, schrieb die viktorianische Kinderbuchautorin Beatrix Potter in ihr Tagebuch, das sie zwischen 1881 und 1897 führte. Sie benutzte dazu eine Schrift, die nur für sie selbst einen Sinn ergab und lesbar war. Erst viele Jahre nach ihrem Tod gelang es einem Philologen, diesen Geheimcode zu entschlüsseln. Noch einmal neun Jahre brauchte er, um den Text vollständig zu transkribieren. Es sind die Aufzeichnungen eines einsamen Kindes aus gutem Hause, dem aus Angst vor ansteckenden Krankheiten keine Spielgefährten erlaubt waren. Die 17-jährige Beatrix schildert Familienereignisse und Erlebnisse im Garten: »Habe im Pferdeteich geangelt und großen Spaß mit den Fröschen gehabt. Während des Nachmittags habe ich einen alten Frosch allein viermal gefangen. Man kann Frösche nicht an einer Schnur aus dem Wasser ziehen, dafür sind sie zu schwer. Molche kann man umherschwingen.« Auch spätere Einträge sind frei von skandalösen Enthüllungen.
       Beatrix Potters kryptisches Tagebuch wurde durch ein berühmtes Werk der englischen Literatur inspiriert, das ebenfalls in Geheimschrift verfasst worden war: die privaten Aufzeichnungen Samuel Pepys’. Pepys war ein Beamter und Lebemann im London des späten 17. Jahrhunderts, der sich für Politik ebenso interessierte wie für Kultur, gesellschaftlichen Tratsch und schöne Frauen. Seine Beobachtungen und Erlebnisse notierte er in einer leicht variierten Kurzschrift und hielt seine Tagebücher zu Lebzeiten streng unter Verschluss. Er bediente sich einer leicht durchschaubaren Form der Codierung aus einem Werk über Stenographie, Thomas Sheltons »Short Writing and Tachygraphy« aus dem Jahr 1626. Für die Beschreibung erotischer Eskapaden benutzte er ein Sprachgemisch aus lateinischen, französischen, italienischen und holländischen Wörtern. Dies war eine zusätzliche Sicherheitsvorkehrung, um die heimlichen Liebschaften mit den häufig wechselnden Hausmädchen und manch ersehnten Seitensprung vor seiner eifersüchtigen Frau

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