Die Bibliothek der verlorenen Bücher
geschmiedet, die jedoch wegen seiner notorischen Geldnot nicht verwirklicht werden konnte. In dieser trübseligen, ausweglos erscheinenden Situation hatte er die glänzende Idee, einen frei erfundenen Reisebericht vorab zu schreiben und zu veröffentlichen. Der Erlös des Buches sollte dann die eigentliche Reise finanzieren. Um dem modischen Begriff der »couleur locale« oder des »Lokalkolorits« gerecht zu werden, übersetzte Mérimée für den fiktiven Reisebericht zunächst eine Handvoll Volksdichtungen – genauer gesagt, er schrieb sie zum größten Teil selbst und veröffentlichte sie als Übersetzungen antiker Originale, während das geplante Reisebuch nie erschien. Bei seiner Arbeit ließ er sich von der fragwürdigen Broschüre eines französischen Konsuls in Banja Luka inspirieren: »Der Autor möchte nachweisen, dass die Bosnier gehörige Schweine sind, und er führt recht gute Gründe dafür an.« Doch Mérimée interessierte sich weniger für die Vorurteile des Konsuls als vielmehr für die von ihm zitierten illyrischen Wörter, die seinen Balladen die nötige Authentizität verleihen sollten.
Bleibenden literarischen Ruhm erwarb sich Prosper Mérimée mit seinen Novellen, von denen er selbst nicht die berühmte »Carmen«, sondern »La Vénus de L'Ille« als die gelungenste pries: Die Novelle handelt von einem jungen Mann, der einer antiken Venusstatue einen Verlobungsring an den Finger steckt und sie so zum Leben erweckt. Die erwachte Statue sucht ihn in seiner Hochzeitsnacht auf und erdrückt ihn durch ihr Gewicht. Dass die Geschichte ein wenig an Mary Shelleys »Frankenstein« erinnert, ist vielleicht kein Zufall, denn Mérimée und Shelley waren sich 1827 in Paris begegnet. Obwohl die feinsinnige Dame aus England nach einer Pockenerkrankung schwarz verschleiert und mit kurz geschorenen Haaren auftrat, lernte Mérimée sie so gut kennen, dass er ihr einen Heiratsantrag machte, den sie höflich zurückwies. Die beiden waren doch allzu verschieden: Sie mied den Trubel der Öffentlichkeit, den er zu schätzen wusste, sie war stets melancholisch und oft deprimiert, er lebenslustig und zuweilen übermütig. Doch beide hatten Erfahrung im Verbrennen misslungener Dramen. So wie Mérimée seinen »Cromwell« ins Feuer geworfen hatte, hatte die Shelley ein namenloses Theaterstück vernichtet, das weder ihrer Selbstkritik noch der wohlmeinenden Prüfung ihres Vaters und ihrer Freunde standhalten konnte. Es ist nicht unwahrscheinlich, dass auch ihr Stück von Cromwell und der englischen Republik handelte, da dieses Thema sie brennend interessierte.
Prosper Mérimée scheint es Mary Shelley nicht übelgenommen zu haben, dass sie die Verbindung mit ihm verschmähte. In ihrem Leben gab es nur einen Mann, auch wenn dieser schon längst Asche war, während sie sein getrocknetes Herz als Lesezeichen benutzte.
Wer hat Angst vor Byrons Memoiren?
N ach dem Scheitern seiner Ehe und wegen anhaltender Gerüchte um eine inzestuöse Beziehung zu seiner Halbschwester Augusta kehrte Lord George Gordon Byron, Englands berühmtester und berüchtigster Dichter, der Heimat den Rücken zu. Im österreichisch besetzten Venedig des Jahres 1818 führte er ein recht ausschweifendes Leben. Auf der Suche nach erotischen Eskapaden schlich er maskiert durch die nächtlichen Gassen. Er nutzte den Trubel des Karnevals und gab jeder Laune seines Herzens nach. Einmal erkletterte er wie Casanova die Fassade eines verwitterten alten Palazzos, um zu einer sehnsüchtig wartenden Geliebten zu gelangen, rutschte aus und plumpste in den Canal Grande. Er war ein meisterhafter Schwimmer, der sich rühmte, den Hellespont durchschwömmen zu haben. Dank seiner sportlichen Übung überlebte er auch den unwürdigen Sturz in das schmutzig-trübe Wasser. Eine üble Erkältung zwang ihn aber, seine amourösen Ambitionen ein paar Tage zurückzustellen.
Die eigenwilligen moralischen Vorstellungen der schönen Venezianerinnen waren Byron nicht unsympathisch. Verheiratete Damen, die einen Liebhaber hatten, wurden keineswegs beschuldigt, die Anstandsregeln verletzt zu haben. »Das ist ganz normal«, schrieb er, »einige haben zwei, drei, und so weiter bis zwanzig, über die hinaus sie nicht weiterzählen«. Trotz zahlreicher Affären, die er bis zur Erschöpfung auskostete, fand Byron Zeit und Muße, einige seiner schönsten Werke zu verfassen. In Venedig entstand der erste Gesang des »Don Juan«, eines satirischen Versepos über den
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