Die schönste Zeit des Lebens
1
WOFÜR ICH mich interessiere?
Ihre Stimme ist leise und eindringlich; von ihrem Sessel aus scheint sie, den Kopf leicht zur Seite gelegt, ihren Worten hinterherzuhorchen.
Für alles, sagt sie dann, sagt es so heiter, als wären damit alle Fragen beantwortet, alle Probleme gelöst. Aber als er darauf lange nichts erwidert, weil er ganz damit beschäftigt ist, zu entziffern, was auf den vergilbten und abgegriffenen Buchrücken steht, vielleicht auch, weil ihn ihre Antwort erst recht ratlos gemacht hat, da fügt sie, als handelte es sich um eine eigentlich überflüssige Erläuterung, doch noch hinzu: Vor allem für die Liebe.
Er wirft den Kopf herum. Wie ein Schreck sind ihm ihre Worte in die Glieder gefahren. Sein Atem stockt, er zwingt sich, die Luft, die er in einem kurzen, erschreckten Atemzug eingesogen hat und die sich nun in seiner Lunge staut, ganz langsam durch den halb geöffneten Mund auszulassen.
Vor allem für die Liebe …
Er fühlt, wie ihm vom Hals her die Röte in die Wangen steigt. Als hätte er sich, seit sie ihm vor wenigen Minuten die Wohnungstür öffnete und ihm mit kleinen, tastenden Schritten in dieses altmodisch plüschige Wohnzimmer voranging, in einen schüchternen Knaben zurückverwandelt.
Ein Wort wie eine Wunde, wie ein falsches Versprechen: Liebe …
Oder wie ein kleiner Vogel mit gebrochenem Flügel. Der weiße Sand unter den Füßen fein wie Mehl, bei jedem Schritt quillt er zwischen den Zehen hindurch, das Heidekraut den Hügel hinauf, die roten Föhren, der fächelnde Wind, der Duft des Harzes … Warum schnürte ihm die Stille die Kehle zu? Der Vogel in seiner Hand, er spürte, wie das kleine Herz klopfte, wild und voll Angst, er sah, wie er den Kopf zur Seite legte, einen Moment lang schauten sie sich an, Auge in Auge: der kleine Vogel mit dem gebrochenen Flügel und er, der ihn hielt, ihn sicher hielt in seiner großen, wärmenden Hand.
Ob sie seine Verlegenheit bemerkt hat? Er wirft einen schnellen prüfenden Blick zu ihr hinüber. Um ihren Mund ein Lächeln: versonnen, nach innen gerichtet. In ihren weit geöffneten Augen spiegelt sich das Licht, das von den Fenstern her in breiten Bahnen ins Zimmer fällt. Nein, sie sieht ihn nicht, jedenfalls nicht genau genug, um seine Verlegenheit zu bemerken. Allenfalls als vagen Schatten mag sie ihn im Gegenlicht wahrnehmen.
Nun, was ist, junger Mann? Haben Sie etwas Passendes gefunden?
Er steht vor dem zur hohen Decke hinaufreichenden Bücherregal und lässt seine Augen wieder über die Buchrücken gleiten: Mario Soldati, Briefe aus Capri neben Selma Lagerlöf, Aus meinen Kindertagen und daneben ohne erkennbare Ordnung Bruno Schulz, Die Zimtläden , Gustave Flaubert, Die Erziehung des Herzens , Rudolf Borchardt, Der leidenschaftliche Gärtner , dann ein Band mit der Aufschrift Unser Goethe, immerhin ein Name, der ihm schon einmal untergekommen ist, Salk Viertel, Das unbelehrbare Herz , Virginia Woolf gleich mit vier Romanen: Die Fahrt zum Leuchtturm , Die Wellen , Orlando und Zwischen den Akten, Knut Hamsun, Mysterien , Henry James, Die sündigen Engel , das Gesamtwerk eines gewissen Friedo Lampe in einem Band, noch einmal Henry James, Bildnis einer Dame , Jane Austen, Stolz und Vorurteil , François Mauriac, Das Gewand des Jünglings , Ludwig Bemelmans, Alte Liebe rostet nicht und schließlich Anaïs Nin, vier Bände ohne Titel.
Unschlüssig nimmt er den Band Goethe zur Hand, schlägt das Inhaltsverzeichnis auf, überfliegt das Vorwort, blättert noch darin, während sein Blick schon über die nächste Bücherreihe gleitet und an zwei kleinformatigen Bändchen festmacht. Einen Augenblick lang ist er wie erstarrt, wagt nicht zu atmen, schreckt vor der eigenen Kühnheit zurück. Aber dann stellt er den Goethe zurück und nimmt die beiden Bändchen aus dem Regal, hält sie eine Weile wägend in der Hand, gibt sich einen Ruck und liest ihr, ein wenig zu laut, aber mit fester Stimme, den Titel vor: Liebesgeschichten aus Tausendundeiner Nacht .
Na also, sagt sie hörbar zufrieden. Ich wusste, dass Sie das Richtige finden würden.
Er schiebt einen Stuhl in die Nähe ihres Sessels, dreht ihn mit dem Rücken gegen das Fenster, sodass das Tageslicht auf das aufgeschlagene Büchlein fällt, setzt sich, holt, wie um sich zu stärken, noch einmal tief Luft und beginnt zu lesen: Preis sei Allah, dem Herrn der Welten! Segen und Heil dem Herrn der Gottesgesandten, unserem Herrn und Meister, Mohammed …
Ob er sich da nicht doch
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