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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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leerer Zwiebelsäcke, gestapelte, gleichfalls leere Obstkisten gleiten, bis er, zuvor nie gesehenes Balkenwerk streifend, sich jener Stelle näherte, an der Greffs Wanderschuhe hängen oder auf der Spitze stehen mußten.
    Natürlich wußte ich, daß Greff hing. Die Schuhe hingen, mithin hingen auch die grobgestrickten, dunkelgrünen Socken. Nackte Männerknie über den Strumpfrändern, behaart die Oberschenkel bis zum Hosenrand; da zog sich langsam ein prickelndes Stechen von meinen Geschlechtsteilen, dem Gesäß folgend, den taubwerdenden Rücken hoch, kletterte an der Wirbelsäule entlang, setzte sich im Nacken fest, schlug mich heiß und kalt, prallte mir von dort wieder zwischen die Beine, ließ meinen ohnehin winzigen Beutel schrumpfen, saß mir abermals, den schon gekrümmten Rücken überspringend im Nacken, verengte sich dort — es sticht und würgt Oskar heutzutage noch, wenn jemand in seiner Gegenwart vom Hängen, selbst vom Wäscheaufhängen spricht — nicht nur Greffs Wanderschuhe, Wollstrümpfe, Knie und Kniehosen hingen; der ganze Greif hing am Hals und machte über dem Seil ein angestrengtes Gesicht, das nicht frei von theatralischer Pose war.
    Überraschend schnell ließ das Ziehen und Stechen nach. Greffs Anblick normalisierte sich mir; denn im Grunde ist die Körperstellung eines hängenden Mannes genau so normal und natürlich wie etwa der Anblick eines Mannes, der auf den Händen läuft, eines Mannes, der auf dem Kopf steht, eines Mannes, der eine wahrhaft unglückliche Figur macht, indem er auf ein vierbeiniges Roß steigt, um zu reiten.
    Dazu kam der Dekor. Erst jetzt begriff Oskar den Aufwand, den Greff mit sich getrieben hatte. Der Rahmen, die Umgebung, in der Greff hing, war ausgesuchtester, fast extravaganter Art. Der Gemüsehändler hatte eine ihm angemessene Form des Todes gesucht, hatte einen ausgewogenen Tod gefunden. Er, der zeit seines Lebens mit den Beamten des Eichamtes Schwierigkeiten und peinlichen Briefwechsel gehabt hatte, er, dem sie die Waage und die Gewichte mehrmals beschlagnahmt hatten, er, der wegen unkorrekten Abwiegens von Obst und Gemüse Bußen hatte zahlen müssen, er wog sich aufs Gramm mit Kartoffeln auf.
    Das matt glänzende, wahrscheinlich geseifte Seil lief, auf Rollen geführt, über zwei Balken, die er eigens für seinen letzten Tag einem Gerüst draufgezimmert hatte, das schließlich nur den einen Zweck besaß, sein letztes Gerüst zu sein. Dem Aufwand an bestem Bauholz durfte ich entnehmen, daß der Gemüsehändler nicht hatte sparen wollen. Es mochte schwierig gewesen sein, in jenen an Baumaterialien armen Kriegszeiten die Balken und Bretter zu beschaffen. Greff wird zuvor Tauschhandel getrieben haben; für Obst bekam er Holz. So fehlte es an diesem Gerüst auch nicht an überflüssigen und nur zierenden Verstrebungen. Das dreiteilige, stufenbildende Podest — eine Ecke desselben hatte Oskar vom Laden aus sehen können — hob das gesamte Gestühl in beinahe erhabene Bereiche.
    Wie bei der Trommelmaschine, die der Bastler als Modell benutzt haben mochte, hingen Greff und sein Gegengewicht innerhalb des Gerüstes. Recht gegensätzlich zu den weißgekälkten vier Eckbalken stand ein zierliches grünes Leiterchen zwischen ihm und den gleichfalls schwebenden Feldfrüchten.
    Die Kartoffelkörbe hatte er mittels eines kunstvollen Knotens, wie ihn die Pfadfinder zu schlagen wissen, dem Hauptseil angeknüpft. Da das Innere des Gerüstes von vier weißgestrichenen, dennoch starkstrahlenden Glühbirnen erleuchtet wurde, konnte Oskar, ohne das feierliche Podest betreten und entweihen zu müssen, einem mit Draht am Pfadfinderknoten befestigten Pappschildchen über den Kartoffelkörben die Aufschrift ablesen: Fünfundsiebenzig Kilo (weniger hundert Gramm).
    Greff hing in der Uniform eines Pfadfinderführers. Er hatte an seinem letzten Tag wieder in die Uniform der Vorkriegsjahre zurückgefunden. Sie war ihm eng geworden. Die beiden obersten Knöpfe und den Gurt hatte er nicht schließen können, was seiner sonst adretten Aufmachung einen peinlichen Beigeschmack gab. Zwei Finger der linken Hand hatte Greff nach Pfadfindersitte überkreuz gelegt.
    Ans rechte Handgelenk band sich der Erhängte, bevor er sich erhing, den Pfadfinderhut. Auf das Halstuch hatte er verzichten müssen. Da es ihm wie bei der Kniehose auch am Hemdkragen nicht gelungen war, die obersten Knöpfe zu schließen, quoll ihm schwarzkrauses Brusthaar aus dem Stoff.
    Da lagen auf den Stufen des Podestes

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