Die Blechtrommel
Gemüsekeller, die Pestalozzischule, die Badeanstalt Brösen, die Herz-Jesu-Kirche, das Cafe Vierjahreszeiten, die Schokoladenfabrik Baltic, mehrere Bunker am Atlantikwall, den Eiffelturm zu Paris, den Stettiner Bahnhof zu Berlin, die Kathedrale zu Reims und nicht zuletzt das Mietshaus, in dem Herr Matzerath das Licht dieser Welt erblickte, bildete ich, Knoten um Knoten schlagend, nach, die Gitter und Grabsteine der Friedhöfe Saspe und Brenntau boten ihre Ornamente meinem Bindfaden an, ich ließ Fadenschlag um Fadenschlag Weichsel und Seine fließen, die Wellen der Ostsee, die Wogen des Atlantik gegen Bindfadenküsten branden, ließ Bindfaden zu kaschubischen Kartoffeläckern und dem Weideland der Normandie werden, bevölkerte die so entstandene Landschaft — die ich schlicht »Europa« nenne, mit Figurengruppen wie: Die Postverteidiger. Die Kolonialwarenhändler. Menschen auf der Tribüne.
Menschen vor der Tribüne. Volksschüler mit Schultüten. Aussterbende Museumswärter. Jugendliche Kriminelle bei den Weihnachtsvorbereitungen. Polnische Kavallerie vor Abendröte. Ameisen machen Geschichte. Fronttheater spielt für Unteroffiziere und Mannschaften. Stehende Menschen, die liegende Menschen im Lager Treblinka desinfizieren. Und jetzt beginne ich mit der Figur des Ostflüchtlings, der sich höchstwahrscheinlich in eine Gruppe von Ostflüchtlingen verwandeln wird.
Herr Matzerath fuhr am zwölften Juni fünfundvierzig, etwa um elf Uhr vormittags von Danzig, das zu jenem Zeitpunkt schon Gdansk hieß, ab. Ihn begleiteten die Witwe Maria Matzerath, die mein Patient als seine ehemalige Geliebte bezeichnet, Kurt Matzerath, meines Patienten angeblicher Sohn.
Außerdem sollen sich in dem Güterwagen noch zweiunddreißig andere Personen befunden haben, darunter vier Franziskanerinnen in Ordenstracht und ein junges Mädchen mit Kopftuch, in welchem Herr Oskar Matzerath ein gewisses Fräulein Luzie Rennwand erkannt haben will. Nach mehreren Anfragen meinerseits gibt mein Patient aber zu, daß jenes Mädchen Regina Raeck hieß, spricht aber weiterhin von einem namenlos dreieckigen Fuchsgesicht, das er dann doch immer wieder beim Namen nennt, Luzie ruft; was mich nicht hindert, jenes Mädchen hier als Fräulein Regina einzutragen. Regina Raeck reiste mit ihren Eltern, den Großeltern und einem kranken Onkel, der außer seiner Familie einen üblen Magenkrebs mit sich gen Westen führte, viel sprach und sich sofort nach der Abfahrt als ehemaliger Sozialdemokrat ausgab.
Soweit sich mein Patient erinnern kann, verlief die Fahrt bis Gdynia, das viereinhalb Jahre lang Gotenhafen hieß, ruhig. Zwei Frauen aus Oliva, mehrere Kinder und ein älterer Herr aus Langfuhr sollen bis kurz hinter Zoppot geweint haben, während sich die Nonnen aufs Beten verlegten.
In Gdynia hatte der Zug fünf Stunden Aufenthalt. Zwei Frauen mit sechs Kindern wurden noch in den Waggon eingewiesen. Der Sozialdemokrat soll dagegen protestiert haben, weil er krank war und als Sozialdemokrat von vor dem Kriege her Sonderbehandlung verlangte. Aber der polnische Offizier, der den Transport leitete, ohrfeigte ihn, als er nicht Platz machen wollte, und gab in recht fließendem Deutsch zu verstehen, daß er nicht wisse, was das bedeute, Sozialdemokrat. Er habe sich während des Krieges an verschiedenen Orten Deutschlands aufhalten müssen, während der Zeit sei ihm das Wörtchen Sozialdemokrat nie zu Gehör gekommen. — Der magenkranke Sozialdemokrat kam nicht mehr dazu, dem polnischen Offizier Sinn, Wesen und Geschichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands zu erklären, weil der Offizier den Waggon verließ, die Türen zuschob und von außen verriegelte.
Ich habe vergessen, zu schreiben, daß alle Leute auf Stroh saßen oder lagen. Als der Zug am späten Nachmittag abfuhr, riefen einige Frauen: »Wir fahren wieder zurück nach Danzig.« Aber das war ein Irrtum. Der Zug wurde nur rangiert und fuhr dann westwärts in Richtung Stolp. Die Reise bis Stolp soll vier Tage gedauert haben, weil der Zug auf freier Strecke ständig von ehemaligen Partisanen und polnischen Jugendbanden aufgehalten wurde. Die Jugendlichen öffneten die Schiebetüren der Waggons, ließen etwas frische Luft hinein und entführten mit der verbrauchten Luft auch einen Teil des Reisegepäcks aus den Waggons. Immer wenn die Jugendlichen den Waggon des Herrn Matzerath besetzten, erhoben sich die vier Nonnen und hielten ihre an den Kutten hängenden Kreuze hoch. Die vier Kruzifixe
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