Die Blechtrommel
grüßte ich die Marienstraße, den Strießbach, den Kleinhammerpark, die immer noch ekelhaft tropfende Unterführung zur Bahnhofstraße, meine unzerstörte Herz-Jesu-Kirche und den Bahnhof des Vorortes Langfuhr, den man jetzt Wrzeszcz nannte, was sich kaum aussprechen ließ.
Wir mußten warten. Als dann der Zug einrollte, war es ein Güterzug. Menschen gab es, viel zu viel Kinder. Das Gepäck wurde kontrolliert und gewogen. Soldaten warfen in jeden Güterwagen einen Strohballen. Keine Musik spielte. Es regnete aber auch nicht. Heiter bis wolkig war es, und der Ostwind wehte.
Wir kamen in den viertletzten Wagen. Herr Fajngold stand mit dünnem rötlich wehendem Haar unter uns auf den Gleisen, trat, als die Lokomotive durch einen Stoß ihre Ankunft verriet, näher heran, reichte Maria drei Päckchen Margarine und zwei Päckchen Kunsthonig, fügte, als polnische Kommandos, Geschrei und Weinen die Abfahrt ankündigten, dem Reiseproviant noch ein Paket mit Desinfektionsmitteln hinzu — Lysol ist wichtiger als das Leben — und wir fuhren, ließen den Herrn Fajngold zurück, der auch richtig und ordnungsgemäß, wie es sich bei der Abfahrt von Zügen gehört, mit rötlich wehendem Haar immer kleiner wurde, nur noch aus Winken bestand, bis es ihn nicht mehr gab.
WACHSTUM IM GÜTERWAGEN
Das schmerzt mich heute noch. Das warf mir soeben den Kopf in die Kissen. Das läßt Fuß- und Kniegelenke deutlich werden, macht mich zum Knirscher — was heißen soll, Oskar muß mit den Zähnen knirschen, damit er das Knirschen seiner eigenen Knochen in den Gelenkpfannen nicht hört.
Ich betrachte meine zehn Finger und muß mir eingestehen, sie sind geschwollen. Ein letzter Versuch auf meiner Trommel beweist: Oskars Finger sind nicht nur etwas geschwollen, sie sind für diesen Beruf momentan unbrauchbar; die Trommelstöcke entfallen ihnen.
Auch der Füllfederhalter will sich meiner Führung nicht mehr unterordnen. Um kalte Umschläge werde ich Bruno bitten müssen. Dann, mit kühl umwickelten Händen, Füßen und Knien, mit dem Tuch auf der Stirn werde ich meinen Pfleger Bruno mit Papier und einem Bleistift ausrüsten; denn meinen Füllfederhalter verleihe ich ungern. Ob Bruno auch gut zuhören will und kann? Wird seine Nacherzählung auch jener Reise im Güterwagen gerecht werden, die am 12. Juni fünfundvierzig begann? Bruno sitzt an dem Tischchen unter dem Anemonenbild. Jetzt dreht er den Kopf, zeigt mir die Seite, die man Gesicht nennt, und schaut mit den Augen eines Fabeltieres links und rechts an mir vorbei. Wie er sich den Bleistift quer über den dünnen säuerlichen Mund legt, will er einen Wartenden vortäuschen. Doch angenommen, er wartet tatsächlich auf mein Wort, auf das Zeichen zum Anfang seiner Nacherzählung, — seine Gedanken kreisen um seine Knotengebilde. Bindfäden wird er knüpfen, während es Oskars Aufgabe bleibt, meine verworrene Vorgeschichte wortreich zu entwirren.
Bruno schreibt jetzt:
Ich, Bruno Münsterberg, aus Altena im Sauerland, unverheiratet und kinderlos, bin Pfleger in der Privatabteilung der hiesigen Heil-und Pflegeanstalt. Herr Matzerath, der hier seit über einem Jahr stationiert ist, ist mein Patient. Ich habe noch andere Patienten, von denen hier nicht die Rede sein kann. Herr Matzerath ist mein harmlosester Patient. Nie gerät er so außer sich, daß ich andere Pfleger rufen müßte. Er schreibt und trommelt etwas zu viel. Um seine überanstrengten Finger schonen zu können, bat er mich heute, für ihn zu schreiben und keine Knotengeburt zu machen. Ich habe mir dennoch Bindfaden in die Tasche gesteckt und werde, während er erzählt, mit den unteren Gliedmaßen einer Figur beginnen, die ich, Herrn Matzeraths Erzählung folgend, »Der Ostflüchtling« nennen werde. Dieses wird nicht die erste Figur sein, die ich den Geschichten meines Patienten entnehme.
Bisher knotete ich seine Großmutter, die ich »Apfel in vier Schlafröcken« nenne; knüpfte aus Bindfaden seinen Großvater, den Flößer, nannte den etwas gewagt »Columbus«; durch meinen Bindfaden wurde aus seiner armen Mama »Die schöne Fischesserin«; aus seinen beiden Vätern Matzerath und Jan Bronski knotete ich eine Gruppe, die »Die beiden Skatdrescher« heißt; auch schlug ich den narbenreichen Rücken seines Freundes Herbert Truczinski zu Faden, nannte das Relief »Unebene Strecke«; auch einzelne Gebäude, wie die Polnische Post, den Stockturm, das Stadttheater, die Zeughauspassage, das Schiffahrtsmuseum, Greffs
Weitere Kostenlose Bücher