Die Blechtrommel
Nacht, die sternenklar, aber für den Monat Juni kühl gewesen sein soll.
In jener Nacht starb — wie Herr Matzerath sagt — unanständig und laut Gott lästernd, die Arbeiterklasse zum Kampf aufrufend, mit letzten Worten — wie man es in Filmen zu hören bekommt — die Freiheit hochleben lassend, schließlich einem Brechanfall verfallend, der den Waggon mit Entsetzen füllte, jener Sozialdemokrat, der allzusehr an seinem einreihigen Anzug hing.
Kein Geschrei hinterher, sagt mein Patient. Es wurde und blieb still in dem Waggon. Nur Frau Maria klapperte mit den Zähnen, weil sie ohne Bluse fror und die letzte übriggebliebene Wäsche dem Sohn Kurt und dem Herrn Oskar draufgelegt hatte. Gegen Morgen nahmen zwei beherzte Nonnen die Gelegenheit der offengebliebenenWaggontür wahr, reinigten den Waggon und warfen durchnäßtes Stroh, den Kot der Kinder und Erwachsenen, auch den Auswurf des Sozialdemokraten auf den Bahndamm.
In Stolp wurde der Zug von polnischen Offizieren inspiziert. Gleichzeitig wurden warme Suppe und ein dem Malzkaffee ähnliches Getränk ausgeteilt. Die Leiche im Waggon des Herrn Matzerath beschlagnahmte man wegen Seuchengefahr> ließ sie von Sanitätern auf einem Gerüstbrett forttragen.
Nach Fürsprache der Nonnen erlaubte ein höherer Offizier noch den Angehörigen ein kurzes Gebet.
Auch durften dem toten Mann die Schuhe, Strümpfe und der Anzug ausgezogen werden. Mein Patient beobachtete während der Entkleidungsszene — später wurde die Leiche auf dem Brett mit leeren Zementsäcken zugedeckt — die Nichte des Entkleideten. Abermals erinnerte ihn das junge Mädchen, obgleich es Raeck hieß, heftig abstoßend und faszinierend zugleich, an jene Luzie Rennwand, die ich in Bindfaden nachbildete, als Knotengeburt, die Wurstbrotfresserin nenne. Jenes Mädchen im Waggon griff zwar nicht angesichts ihres ausgeplünderten Onkels zu einem wurstbelegten Brot und vertilgte das samt den Pellen, sie beteiligte sich vielmehr bei der Plünderei, erbte von des Onkels Anzug die Weste, zog die an Stelle ihrer entführten Strickjacke an und prüfte ihre neue, nicht einmal unkleidsame Aufmachung in einem Taschenspiegel, soll mit dem Spiegel — und hier begründet sich die heute noch nachwirkende Panik meines Patienten — ihn und seinen Liegeplatz eingefangen, gespiegelt und glatt, kühl mit Strichaugen aus einem Dreieck heraus beobachtet haben.
Die Fahrt von Stolp nach Stettin dauerte zwei Tage. Zwar gab es noch oft genug unfreiwilligen Aufenthalt und die langsam schon zur Gewohnheit werdenden Besuche jener mit Fallschirmjägermessern und Maschinenpistolen bewaffneten Halbwüchsigen, doch die Besuche wurden kürzer und kürzer, weil bei den Reisenden kaum noch etwas zu holen war.
Mein Patient behauptet, er habe während der Reise von Danzig-Gdansk nach Stettin, also innerhalb einer Woche, neun, wenn nicht zehn Zentimeter Körperlänge gewonnen. Vor allem sollen sich Ober-und Unterschenkel gestreckt, Brustkorb und Kopf jedoch kaum gedehnt haben. Dafür ließ sich, obgleich der Patient während der Reise auf dem Rücken lag, das Wachstum eines leicht nach links oben verlagerten Buckels nicht verhindern. Auch gibt Herr Matzerath zu, daß sich die Schmerzen hinter Stettin — inzwischen hatte deutsches Eisenbahnpersonal den Transport übernommen — steigerten und durch bloßes Blättern im Fotoalbum der Familie nicht in Vergessenheit zu bringen waren. Er hat mehrmals und anhaltend schreien müssen, bewirkte mit dem Geschrei zwar keine Schäden in irgendeiner Bahnhofsverglasung — Matzerath: meiner Stimme war jede glaszersingende Potenz abhanden gekommen — versammelte aber die vier Nonnen mit seinem Geschrei vor seinem Lager und ließ die aus dem Gebet nicht mehr herauskommen.
Die gute Hälfte der Mitreisenden, darunter die Angehörigen des verstorbenen Sozialdemokraten mit dem Fräulein Regina, verließen in Schwerin den Transport. Herr Matzerath bedauerte das sehr, da ihm der Anblick des jungen Mädchens so vertraut und notwendig geworden war, daß ihn nach ihrem Fortgang heftige, krampfartige Anfälle, von hohem Fieber begleitet, überfielen und schüttelten. Er soll, nach Aussagen von Frau Maria Matzerath, verzweifelt nach einer Luzie geschrien, sich selbst Fabeltier und Einhorn genannt und Angst vor dem Sturz, Lust zum Sturz von einem Zehnmetersprungbrett gezeigt haben.
In Lüneburg wurde Herr Oskar Matzerath in ein Krankenhaus eingeliefert. Dort lernte er im Fieber einige Krankenschwestern
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