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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Stoffsäckchen tastete und mit hell herausfordernder Knabenstimme Zahlen in die Wohnzimmerluft stieß: »Drei oder vier gefälligst? Sie nehmen am besten fünf. Die gehen bald rauf auf mindestens vierundzwanzig. Letzte Woche galt achtzehn, heute früh mußte ich zwanzig sagen, und wenn Sie vor zwei Stunden gekommen wären, als ich gerade aus der Schule kam, hätte ich noch einundzwanzig sagen können.«
    Kurtchen war vier Straßen lang und sechs Straßen breit der einzige Händler für Feuersteine. Er hatte eine Quelle, verriet die Quelle aber nie, sagte jedoch immer wieder, selbst vorm Schlafengehen an Stelle eines Nachtgebetes: »Ich habe eine Quelle!«
    Als Vater wollte ich für mich das Recht beanspruchen können, um die Quelle meines Sohnes wissen zu dürfen. Wenn er also, nicht einmal geheimnisvoll, eher selbstbewußt verkündete: »Ich habe eine Quelle!« folgte sogleich meine Frage: »Wo hast du die Steine her? Sofort sagst du, wo du die Steine her hast.«
    Marias stehende Rede jener Monate, da ich der Quelle nachforschte, war: »Laß den Jung, Oskar.
    Erstens geht dir das jar nischt an, zweitens frag' ich, wenn schon jefragt werden muß, und spiel dir drittens nich auf wie sein Vater. Vor paar Monate konnste noch nich mal nich baff sagen!«
    Wenn ich keine Ruhe gab und Kurtchens Quelle allzu hartnäckig hinterher war, schlug Maria mit flacher Hand auf einen Kunsthonigeimer und entrüstete sich bis in die Ellenbogen, indem sie mich und Guste, die zeitweilig meine Quellenforschungen unterstützte, gleichzeitig angriff: »Ihr seid mir die, Richtichen! Wollt dem Jung das Jeschäft vermasseln. Dabei lebt ihr davon, was er flüssich macht.
    Wenn ich an die paar Kalorien von Oskars Krankenzulage denke, die der in zwei Tage wegfuttert, wird mir schon schlecht, aber ich lach nur.«
    Oskar muß zugeben: damals hatte ich einen gesegneten Appetit, und Kurtchens Quelle, die mehr einbrachte als der Kunsthonig, war es zu verdanken, daß Oskar nach der schmalen Krankenhauskost wieder zu Kräften kam.
    So mußte der Vater beschämt schweigen und mit einem ordentlichen Taschengeld von Kurtchens kindlicher Gnade die Wohnung in Bilk möglichst oft verlassen, um seine Schande nicht ansehen zu müssen.
    Allerlei wohlbestallte Kritiker des Wirtschaftswunders behaupten heute, und je weniger sie sich der damaligen Situation erinnern können, um so begeisterter: »Das war noch eine dolle Zeit vor der Währungsreform! Da war noch was los! Die Leute hatten nischt im Magen und stellten sich trotzdem nach Theaterkarten an. Und auch die schnell improvisierten Feste mit Kartoffelschnaps waren einfach sagenhaft und viel gelungener als Parties mit Sekt und Dujardin, die man heutzutage feiert.«
    So sprechen die Romantiker der verpaßten Gelegenheiten. Ich müßte eigentlich genauso lamentieren, denn in jenen Jahren, da Kurtchens Feuersteinquelle sprudelte, bildete ich mich nahezu kostenlos im Kreis von tausend Nachhol-und Bildungsbeflissenen, belegte Kurse in der Volkshochschule, wurde Stammgast im British Center, »Die Brücke« genannt, diskutierte mit Katholiken und Protestanten die Kollektivschuld, fühlte mich mit all denen schuldig, die da dachten: machen wir es jetzt ab, dann haben wir es hinter uns und brauchen später, wenn es wieder aufwärts geht, kein schlechtes Gewissen mehr zu haben.
    Immerhin verdanke ich der Volkshochschule mein wenn auch bescheidenes, so doch großzügig lückenhaftes Bildungsniveau. Ich las damals viel. Jene Lektüre, die vor meinem Wachstum gerade reichen konnte, um die Welt zur Hälfte Rasputin, zur anderen Hälfte Goethe zuzusprechen, meine Kenntnisse aus Köhlers Flottenkalender von nullvier bis sechzehn wollten mir nicht genügen. Ich weiß nicht mehr, was ich alles las. Auf der Toilette las ich. Beim stundenlangen Anstehen nach Theaterkarten, eingeklemmt zwischen lesenden jungen Mädchen mit Mozartzöpfen, las ich. Ich las, während Kurtchen Feuersteine verkaufte, las, während ich Kunsthonig einpackte. Und wenn Stromsperre war, las ich zwischen Talgkerzen; dank Kurtchens Quelle hatten wir welche.
    Beschämend zu sagen, daß die Lektüre jener Jahre nicht in mich hinein, sondern durch mich hindurch fiel. Einige Wortfetzen, Klappentexte sind geblieben. Und das Theater? Schauspielernamen: die Hoppe, Peter Esser, das R bei der Flickenschildt, Schauspielschülerinnen, die auf Studiobühnen das R der Flickenschildt noch verbessern wollten, Gründgens, der sich als Tasso, ganz in Schwarz den von Goethe

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