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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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Mittelfinger und — glaube noch heute — der Ringfinger der evakuierten Frau, die beide nicht abgefallen, vielmehr vom Heber, der ja kein Gefühl hatte, abgehackt worden waren. Die aber schienen mir schön und geschickt gewesen zu sein, wie auch der Kopf der Frau, der schon in der Zinkkiste war, eine gewisse Ebenmäßigkeit durch den Nachkriegswinter siebenundvierzigachtundvierzig, der ja bekanntlich schlimm war, hinübergerettet hatte, so daß abermals von Schönheit, wenn auch verfallener die Rede sein konnte. Zudem waren mir der Kopf und die Finger der Frau näher und menschlicher als die Schönheit des Kraftwerkes Fortuna Nord. Mag sein, daß ich das Pathos der Industrielandschaft genoß, wie ich zuvor etwa Gustaf Gründgens im Theater genossen hatte, blieb aber doch solch auswendigen Schönheiten gegenüber mißtrauisch, wenn das auch kunstvoll war, und die Evakuierte nur allzu natürlich wirkte. Zugegeben, daß der Starkstrom mir ähnlich wie Goethe ein Weltgefühl vermittelte, aber die Finger der Frau berührten mein Herz, auch wenn ich mir die Evakuierte als Mann vorstellte, weil das besser in meinen Kram fürs Entschlüssefassen paßte und für den Vergleich, der mich zum Yorick machte und die Frau - halb noch unten, halb in der Zinkkiste — zum Manne Hamlet, wenn man Hamlet als Mann bezeichnen will. Ich aber, Yorick, fünfter Aufzug, der Narr, »Ich kannte ihn, Horatio«, erste Szene, ich, der auf allen Bühnen dieser Welt — »Ach armer Yorick!« — seinen Schädel dem Hamlet ausleiht, damit irgendein Gründgens oder Sir Laurence Olivier sich als Hamlet Gedanken darüber macht: »Wo sind nur deine Schwanke? deine Sprünge?« — ich hielt des Gründgens Hamletfinger auf meinem Arbeitsdienstspatenblatt, stand auf dem festen Boden des niederrheinischen Braunkohlenreviers, zwischen den Gräbern der Bergleute, Bauern und deren Familienangehörigen, sah auf die Schieferdächer des Dorfes Oberaußem herab, machte den dörflichen Friedhof zum Mittelpunkt der Welt, das Kraftwerk Fortuna Nord zu meinem imponierenden halbgöttlichen Gegenüber, die Äcker waren Dänemarks Äcker, die Erft war mein Belt, was hier faulte, das faulte mir im Reich der Dänen -
    ich, Yorick, überspannt, geladen, knisternd, über mir singend, nicht daß ich Engel sage, und dennoch sangen die Starkstromengel in Dreierkolonnen zum Horizont hin, wo Köln und sein Hauptbahnhof neben dem gotischen Fabeltier lagen, und versorgten die katholische Beratungsstelle mit Strom, himmlisch über die Rübenäcker, die Erde jedoch gab Brikett her und Hamlets, nicht Yoricks Leiche.
    Die anderen aber, die nichts mit dem Theater zu tun hatten, die mußten unten bleiben — »Die es dahin gebracht. -Der Rest ist Schweigen« — und wurden mit Grabsteinen beschwert, wie wir die Familie Flies mit der dreistelligen Diabaswand schwerwiegend belasteten. Für mich aber, Oskar Matzerath, Bronski, Yorick begann ein neues Zeitalter, und ich betrachtete, des neuen Zeitalters kaum bewußt, noch schnell, bevor es vorbei war, des Prinzen Hamlet vergammelte Finger auf meinem Spatenblatt -
    »Er ist zu fett und kurz von Atem« — ließ, dritter Aufzug, den Gründgens in erster Szene nach Sein oder Nichtsein fragen, verwarf diese törichte Fragestellung, hielt vielmehr Konkretes nebeneinander: so meinen Sohn und meines Sohnes Feuersteine, meine mutmaßlichen irdischen und himmlischen Väter, die vier Röcke meiner Großmutter, die auf Fotos unsterbliche Schönheit meiner armen Mama, den narbigen Irrgarten auf Herbert Truczinskis Rücken, die blutaufsaugenden Briefkörbe der Polnischen Post, Amerika — ach, was ist Amerika gegen die Straßenbahnlinie neun, die nach Brösen fuhr — ließ den zeitweilig immer noch deutlichen Vanilleduft Marias gegen das als Irrsinn gebotene Dreiecksgesicht einer Luzie Rennwand wehen, bat jenen den Tod noch desinfizierenden Herrn Fajngold, das unauffindliche Parteiabzeichen in Matzeraths Luftröhre zu suchen, und sagte zu Korneff oder mehr zu den Hochspannungsmasten hin, sagte — da ich langsam zum Entschluß kam und dennoch das Bedürfnis verspürte, vor dem Entschluß eine dem Theater gemäße, Hamlet in Frage stellende, mich, Yorick, als wahren Bürger feiernde Frage zu stellen — zu.
    Korneff sagte ich, als der mich rief, weil der Sockel mit der Diabaswand verfugt werden mußte, leise und von dem Wunsch bewegt, endlich ein Bürger werden zu dürfen, sprach — leicht Gründgens imitierend, obgleich der kaum einen Yorick spielen

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