Die Blechtrommel
er hielt sich seine Flöte griffbereit. Wußten wir doch, wie gefährlich es war, wenn man dieser empfindsamen und verfeinerten Gesellschaft zweimal kurz nacheinander die Möglichkeit des enthemmenden Weinens bot.
Schmuh, der sah, daß wir die Instrumente musikbereit hielten, verbot uns, Musik zu machen. An den Tischen begannen die Küchenmesser ihre Zerkleinerungsarbeit. Die ersten, so schönen, rosenholz-farbenen Häute wurden achtlos zur Seite geschoben. Glasiges Zwiebelfleisch mit blaßgrünen Streifen geriet unters Messer. Das Weinen begann merkwürdigerweise nicht bei den Damen. Herren im besten Alter, der Besitzer einer Großmühle, ein Hotelier mit seinem leichtgeschminkten Freund, ein adliger Generalvertreter, ein ganzer Tisch mit Fabrikanten der Herren-Oberbekleidung, die einer Vorstahdssitzung wegen in der Stadt weilten, und jener glatzköpfige Schauspieler, der bei uns der Knirscher genannt wurde, weil er beim Weinen mit den Zähnen knirschte, sie alle kamen zu Tränen, bevor die Damen mithalfen. Doch Damen und Herren verfielen nicht jenem erlösenden Weinen, wie es die erste Zwiebel hervorgerufen hatte, sondern wurden von Weinkrämpfen überfallen: schrecklich knirschte der Knirscher, gab einen Schauspieler ab, der jedes Theaterpublikum zum Mitknirschen verfuhrt hätte, der Großmühlenbesitzer ließ seinen gepflegten Graukopf immer wieder auf die Tischplatte schlagen, der Hotelier mischte seinen Weinkrampf mit dem Krampf seines grazilen Freundes, Schmuh, der neben der Treppe stand, ließ seinen Shawl hängen, prüfte verkniffen und nicht ohne Genuß die halbwegs entfesselte Gesellschaft. Und dann zerriß eine ältere Dame vor den Augen ihres Schwiegersohnes ihre Bluse. Plötzlich stand der Freund des Hoteliers, dessen leicht exotischer Einschlag vorher schon aufgefallen war, mit nacktem, naturbraunem Oberkörper auf einer, dann auf der nächsten Tischplatte, tanzte, wie man im Orient tanzen mag, und verkündete den Anfang einer Orgie, die zwar heftig begann, aber wegen mangelnder oder schlicht läppischer Einfalle keine eingehende Schilderung verdient.
Nicht nur Schmuh war enttäuscht, auch Oskar hob angeödet die Augenbrauen. Einige niedliche Entkleidungsszenen, Herren taten sich Damenunterwäsche an, Amazonen griffen zu Krawatten und Hosenträgern, hier und da verschwanden zwei unter der Tischplatte, allenfalls läßt sich der Knirscher nennen, der einen Büstenhalter mit den Zähnen zerriß, kaute und teilweise wohl auch verschluckte.
Wahrscheinlich veranlaßte der schreckliche Lärm, dieses »Juhu« und »Uahhh«, hinter dem so gut wie nichts steckte, den Wirt Schmuh enttäuscht, womöglich auch die Polizei fürchtend, seinen Platz an der Treppe aufzugeben. Zu uns, die wir unter der Hühnerleiter saßen, beugte er sich herab, stieß erst Klepp an, dann mich, zischte: »Musik! Spielt, sag ich euch! Musik, damit Schluß ist mit dem Getue!«
Es stellte sich jedoch heraus, daß Klepp, der ja genügsam war, seinen Spaß gefunden hatte. Gelächter schüttelte ihn, ließ ihn nicht an die Flöte kommen. Scholle, der in Klepp seinen Meister sah, machte dem alles, so auch das Gelächter nach. So blieb nur Oskar übrig — und auf mich konnte sich Schmuh verlassen. Die Blechtrommel zog ich unter der Bank hervor, zündete mir gelassen eine Zigarette an und begann zu trommeln.
Ohne jeden Plan machte ich mich auf dem Blech verständlich. Alle routinemäßige Gaststättenmusik vergaß ich. So spielte Oskar auch keinen Jazz. Ich liebte es ohnehin nicht, daß die Leute in mir einen rasenden Schlagzeuger sahen. Wenn ich auch einen versierten Drummer abgab, war ich dennoch kein reinblütiger Jazzmusiker. Ich liebe die Jazzmusik, wie ich den Wiener Walzer liebe. Beides konnte ich spielen, mußte es aber nicht spielen. Als Schmuh mich um den Einsatz meiner Blechtrommel bat, spielte ich nicht, was ich konnte, sondern was ich vom Herzen her wußte. Es gelang Oskar, einem einst dreijährigen Oskar die Knüppel in die Fäuste zu drücken. Alte Wege trommelte ich hin und zurück, machte die Welt aus dem Blickwinkel der Dreijährigen deutlich, nahm die zur wahren Orgie unfähige Nachkriegsgesellschaft zuerst an die Leine, was heißen soll, ich führte sie in den Posadowskiweg, in Tante Kauers Kindergarten, hatte sie schon soweit, daß sie die Unterkiefer hängenließen, sich bei den Händchen nahmen, die Fußspitzen einwärts schoben, mich, ihren Rattenfänger erwarteten. Und so gab ich den Platz unter der Hühnerleiter
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