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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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kamen immer wieder, sparten sich die sechs Mark vierzig vom Munde ab, weinten über den fehlenden und über jenen die sanfte Mädchenhaut verwüstenden Bart. Manchmal versuchten sie, dem Zwiebelkeller fern zu bleiben, fehlten auch an einem Montag, waren aber am nächsten Montag wieder da, verrieten weinend, ihr Zwiebelklein mit den Fingern zerreibend, daß sie versucht hatten, die sechs Mark vierzig zu sparen; auf ihrer Studentenbude hatten es beide mit einer billigen Zwiebel versucht, aber es war nicht dasselbe wie im Zwiebelkeller. Man brauchte Zuhörer. Es weinte sich in Gesellschaft viel leichter. Zu einem echten Gemeinschaftsgefühl konnte man kommen, wenn links und rechts und oben auf der Galerie die Kommilitonen von dieser und jener Fakultät, selbst die Studenten der Kunstakademie und die Pennäler zu Tränen kamen.
    Auch im Fall Gerhard und Gudrun kam es, außer zu Tränen, nach und nach zu einer Heilung.
    Wahrscheinlich schwemmte das Augenwasser ihre Hemmungen weg. Sie kamen, wie man so sagt, einander näher. Er küßte ihre geschundene Haut, sie genoß seine glatte Haut, und eines Tages kamen sie nicht mehr in den Zwiebelladen, hatten es nicht mehr nötig. Oskar begegnete ihnen Monate später auf der Königsallee, erkannte beide zuerst nicht: er, der glatte Gerhard, trug einen rauschenden, rotblonden Vollbart, sie, die graupelige Gudrun zeigte nur noch einen leichten dunklen Flaum über der Oberlippe, der ihr vorteilhaft zu Gesicht stand. Kinn und Wangen der Gudrun jedoch glänzten glatt und ohne Vegetation. Die beiden gaben ein studierendes Ehepaar ab — Oskar hört, wie sie in fünfzig Jahren ihren Enkelkindern erzählen, sie, Gudrun: »Das war damals, als euer Opa noch keinen Bart hatte.« Er, Gerhard: »Das war damals, als eure Oma noch unter Bartwuchs litt und wir beide jeden Montag in den Zwiebelkeller gingen.«
    Warum aber, so werden Sie fragen, sitzen immer noch die drei Musikanten unter der Schiffstreppe oder Hühnerleiter? Hatte der Zwiebelladen bei all dem Weinen, Heulen und Zähneklappern richtige-und fest angestellte Musik nötig?
    Wir griffen, sobald die Gäste sich ausgeweint, ausgesprochen hatten, zu unseren Instrumenten, lieferten die musikalische Überleitung zu alltäglichen Gesprächen, machten es den Gästen leicht, den Zwiebelkeller zu verlasssen, damit neue Gäste Platz nehmen konnten. Klepp, Scholle und Oskar waren gegen Zwiebeln. Auch gab esin unserem Vertrag mit Schmuh einen Punkt, der uns verbot, Zwiebeln auf ähnliche Art, wie die Gäste es taten, zu genießen. Wir brauchten auch keine Zwiebeln. Scholle, der Guitarrist, hatte keinen Grund zur Klage, immer sah man ihn glücklich und zufrieden, selbst wenn ihm mitten im Ragtime zwei Saiten seines Banjos auf einmal sprangen. Meinem Freund Klepp sind die Begriffe Weinen und Lachen heute noch vollkommen unklar. Das Weinen findet er lustig; ich habe ihn noch nie so lachen sehen wie beim Begräbnis seiner Tante, die ihm, bevor er heiratete, die Hemden und Socken gewaschen hatte. Wie aber verhielt es sich mit Oskar? Oskar hätte Grund zum Weinen genug gehabt. Galt es nicht, die Schwester Dorothea, eine lange, vergebliche Nacht auf einem noch längeren Kokosläufer davon-zuspülen? Und meine Maria, bot sie mir nicht Anlaß zur Klage?
    Ging ihr Chef, der Stenzel, nicht ein und aus in der Bilker Wohnung? Sagte das Kurtchen, mein Sohn, nicht zu dem Feinkosthändler und nebenberuflichen Karnevalisten zuerst »Onkel Stenzel«, dann »Papa Stenzel«? Und hinter meiner Maria, lagen sie da nicht unterm fernen lockeren Sand des Friedhofes Saspe, unterm Lehm des Friedhofes Brenntau: meine arme Mama, der törichte Jan Bronski, der Koch Matzerath, der Gefühle nur in Suppen ausdrücken konnte? — Sie alle galt es zu beweinen.
    Doch gehörte Oskar zu den wenigen Glücklichen, die noch ohne Zwiebel zu Tränen kommen konnten.
    Meine Trommel half mir. Nur weniger, ganz bestimmter Takte bedurfte es, und Oskar fand Tränen, die nicht besser und nicht schlechter als die teuren Tränen des Zwiebelkellers waren.
    Auch der Wirth Schmuh vergriff sich nie an den Zwiebeln. Ihm boten die Sperlinge, die er in seiner Freizeit aus Hecken und Büschen schoß, einen vollwertigen Ersatz. Kam es nicht oft genug vor, daß Schmuh nach dem Schießen die zwölf geschossenen Spatzen auf einer Zeitung reihte, über den zwölf, manchmal noch lauwarmen, Federbündeln zu Tränen kam und, immer noch weinend, Vogelfutter über die Rheinwiesen und Uferkiesel streute? Im

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