Die Blechtrommel
ich zuvor den Schuh abgestreift hatte. Er trat zu, und ich störte dennoch nicht das Konzert. Nach sieben Wochen verließ mich Willy abermals. Noch zweimal durften wir uns wenige Wochen lang haben, da ich noch zweimal einmal den linken, dann den rechten großen Zeh hinhielt.
Heute sind beide Zehen verkrüppelt. Die Nägel wollen nicht mehr nachwachsen. Dann und wann besucht mich Willy, sitzt vor mir auf dem Teppich, starrt erschüttert, voller Mitleid mit mir und mit sich selbst, doch ohne Liebe tränenlos auf die beiden nagellosen Opfer unserer Liebe. Manchmal sage ich zu ihm: Komm, Willy, wir gehen zu Schmuh in den Zwiebelkeller, weinen wir uns mal richtig aus.
Aber bis jetzt hat er nie mitkommen wollen. Der Arme weiß also nichts von der großen Trösterin Träne.
Später — und Oskar verrät das nur, um die Neugierigen unter Ihnen zu befriedigen — kam auch Herr Vollmer, ein Radiohändler übrigens, zu uns in den Keller. Sie weinten gemeinsam und sollen, wie Klepp mir gestern während der Besuchsstunde berichtete, kürzlich geheiratet haben.Wenn auch die wahre Tragik menschlicher Existenz vom Dienstag bis Sonnabend — am Sonntag blieb der Zwiebelkeller geschlossen — in aller Breite nach dem Zwiebelgenuß deutlich wurde, den Gästen des Montags blieb es vorbehalten, zwar nicht die tragischsten, aber die heftigsten Weiner abzugeben. Am Montag war es billiger. Da gab Schmuh zu halben Preisen Zwiebeln an die Jugend ab. Zumeist kamen Medizinstudenten und Studentinnen. Aber auch Studenten der Kunstakademie, vor allen Dingen diejenigen, die später Zeichenlehrer werden wollten, gaben einen Teil ihrer Stipendiengelder für Zwiebeln aus. Woher aber hatten, frage ich mich heute noch, die Oberprimaner und Oberprimanerinnen das Geld für die Zwiebeln? Die Jugend weint anders als das Alter. Die Jugend hat auch ganz andere Probleme. Das müssen nicht immer Sorgen ums Examen sein oder ums Abitur.
Natürlich kamen auch im Zwiebelkeller Vaterundsohngeschichten, Mutterundtochtertragödien zur Sprache. Wenn sich die Jugend auch unverstanden fühlte, fand sie das Unverstandensem dennoch kaum beweinenswert. Oskar freute sich, daß die Jugend nach wie vor der Liebe, nicht nur der geschlechtlichen Liebe wegen zu Tränen kam. Gerhard und Gudrun: sie saßen anfangs immer unten, weinten erst später gemeinsam auf der Galerie.
Sie, groß, kräftig, eine Handballerin, die Chemie studierte. Voll knotete sich ihr Haar im Nacken. Grau und dennoch mütterlich, wie man es vor Kriegsende jahrelang auf Frauenschaftsplakaten sehen konnte, blickte sie durch und durch sauber zumeist geradeaus. So milchig, glatt und gesund ihre Stirn sich auch wölbte, trug sie dennoch ihr Unglück deutlich im Gesicht. Vom Kehlkopf aufwärts übers runde kräftige Kinn, beide Wangen einbeziehend, hinterließ ein männlicher Bartwuchs, den die Unglückliche immer wieder zu rasieren versuchte, schlimme Spuren. Die zarte Haut vertrug wohl die Rasierklinge nicht. Ein gerötetes, gesprungenes, pickliges Unglück, in welchem der Damenbart immer wieder nachwuchs, beweinte Gudrun. Gerhard kam erst später in den Zwiebelkeller. Die beiden lernten sich nicht wie Fräulein Pioch und Herr Vollmer in der Straßenbahn, sondern in der Eisenbahn kennen. Er saß ihr gegenüber, beide kamen aus den Semesterferien zurück. Er liebte sie sofort, trotz des Bartes. Sie wagte ihn wegen ihres Bartes nicht zu lieben, bewunderte aber — was eigentlich sein Unglück ausmachte -Gerhards kinderpopoglatte Kinnhaut; dem jungen Mann wuchs kein Bart, was ihn jungen Mädchen gegenüber schüchtern machte. Dennoch sprach Gerhard die Gudrun an, und als sie am Hauptbahnhof Düsseldorf ausstiegen, hatten sie zumindest Freundschaft geschlossen. Sie sahen sich von jenem Reisetag an täglich. Von diesem und jenem sprachen sie, tauschten auch einen Teil ihrer Gedanken aus, nur der fehlende Bart und der immer nachwachsende Bart wurden nie erwähnt.
Auch schonte Gerhard die Gudrun und küßte sie ihrer gemarterten Haut wegen nie. So blieb ihre Liebe keusch, obgleich alle beide nicht viel von der Keuschheit hielten, denn sie hing schließlich der Chemie an, er wollte sogar ein Mediziner werden. Als ihnen ein gemeinsamer Freund den Zwiebelkeller anriet, wollten beide, skeptisch wie Mediziner und Chemikerinnen nun einmal sind, geringschätzig lächeln.
Schließlich gingen sie doch, um, wie sie sich gegenseitig versicherten, dort Studien zu treiben. Oskar hat selten junge Menschen so weinen sehen. Sie
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