Die Blechtrommel
unterm Kinn. Dann zwei Reihen SA, die während der Singerei und Rederei die Hände am Koppelschloß hielten. Dann sitzend mehrere Reihen uniformierte Parteigenossen, hinter dem Rednerpult gleichfalls Pg's, Frauenschaftsführerinnen mit Müttergesichtern, Vertreter des Senates in Zivil, Gäste aus dem Reich und der Polizeipräsident oder sein Stellvertreter.
Den Sockel der Tribüne verjüngte die Hitlerjugend oder, genauer gesagt, der Gebietsfanfarenzug des Jungvolkes und der Gebietsspielmannszug der HJ. Bei manchen Kundgebungen durfte auch ein links und rechts, immer wieder symmetrisch angeordneter gemischter Chor entweder Sprüche hersagen oder den so beliebten Ostwind besingen, der sich, laut Text, besser als alle anderen Winde fürs Entfalten von Fahnenstoffen eignete.
Bebra, der mich auf die Stirn küßte, sagte auch: »Oskar, stelle dich niemals vor eine Tribüne.
Unsereins gehört auf die Tribüne!«
Zumeist gelang es mir, zwischen irgendwelchen Frauenschaftsführerinnen Platz zu finden. Leider unterließen es diese Damen nicht, mich während der Kundgebung aus Propagandazwecken zu Streichern. Zwischen die Pauken, Fanfaren und Trommeln am Tribünenfuß konnte ich mich meiner Blechtrommel wegen nicht mischen; denn die lehnte die Landsknechtpaukerei ab. Leider ging auch ein Versuch mit dem Gauschulungsleiter Löbsack schief. Ich täuschte mich schwer in dem Mann.
Weder war er, wie ich gehofft hatte, ein Abgesandter Bebras, noch hatte er, trotz seines vielversprechenden Buckels, das geringste Verständnis für meine wahre Größe.
Als ich ihm anläßlich eines Tribünensonntages kurz vor dem Rednerpult entgegentrat, den Parteigruß bot, ihn zuerst blank anblickte, dann mit dem Auge zwinkernd zuflüsterte: »Bebra ist unser Führer!« ging dem Löbsack nicht etwa ein Licht auf, sondern er streichelte mich genau wie die NS— Frauenschaft und ließ schließlich Oskar — weil er ja seine Rede halten mußte — von der Tribüne weisen, wo ihn zwei BdM-Führerinnen in die Mitte nahmen und während der ganzen Kundgebung nach »Vati und Mutti« ausfragten.
So kann es nicht verwundern, wenn mich die Partei schon im Sommer vierunddreißig, doch nicht vom Röhmputsch beeinflußt, zu enttäuschen begann. Je länger ich mir die Tribüne, vor der Tribüne stehend, ansah, um so verdächtiger wurde mir jene Symmetrie, die durch Löbsacks Buckel nur ungenügend gemildert wurde. Es liegt nahe, daß meine Kritik sich vor allen Dingen an den Trommlern und Fanfarenbläsern rieb; und im August fünfunddreißig ließ ich mich an einem schwülen Kundgebungssonntag mit dem Spielmanns-und Fanfarenzugvolk am Fuß der Tribüne ein.
Matzerath verließ schon um neun Uhr die Wohnung. Ich hatte ihm noch beim Wichsen der braunen Ledergamaschen geholfen, damit er rechtzeitig aus dem Haus kam. Selbst zu dieser frühen Tagesstunde war es schon unerträglich heiß, und er schwitzte sich dunkle, wachsende Flecken unter die Ärmel seines Parteihemdes, bevor er im Freien war. Punkt halb zehn stellte sich in luftig hellem Sommeranzug mit durchbrochenen, feingrauen Halbschuhen, einen Strohhut tragend, Jan Bronski ein.
Jan spielte ein bißchen mit mir, konnte aber beim Spiel die Augen nicht von Mama lassen, die sich am Vorabend die Haare gewaschen hatte. Recht bald bemerkte ich, daß meine Anwesenheit das Gespräch der beiden hemmte, ihr Handeln steif und Jans Bewegungen behindert wirken ließ. Offensichtlich wurde ihm seine leichte Sommerhose zu eng, und ich trollte mich davon, folgte den Spuren Matzeraths, ohne in ihm ein Vorbild zu sehen. Vorsichtig vermied ich Straßen, die voller in Richtung Maiwiese strebender Uniformierter waren, und näherte mich erstmals dem Kundgebungsfeld von den Tennisplätzen her, die neben der Sporthalle lagen. Diesem Umweg verdankte ich die Hinteransicht der Tribüne.
Haben Sie schon einmal eine Tribüne von hinten gesehen? Alle Menschen sollte man — nur um einen Vorschlag zu machen — mit der Hinteransicht einer Tribüne vertraut machen, bevor man sie vor Tribünen versammelt. Weir jemals eine Tribüne von hinten anschaute, recht anschaute, wird von Stund an gezeichnet und somit gegen jegliche Zauberei, die in dieser oder jener Form auf Tribünen zelebriert wird, gefeit sein. Ähnliches kann man von den Hinteransichten kirchlicher Altäre sagen; doch das steht auf einem anderen Blatt.
Oskar jedoch, der immer schon einen Zug zur Gründlichkeit hatte, ließ es mit dem Anblick des nackten, in seiner
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