Die Blechtrommel
Petroleumlampen kamen die Skatkarten auf den Tisch. Der Kartoffelschnaps blieb. Auch gab es Eierlikör, selbstgemacht. Der machte lustig. Und Greff, der nicht trank, sang Lieder. Auch die Kaschuben sangen, und Matzerath gab als erster die Karten aus. Jan war der zweite Mann und der Vorarbeiter von der Ziegelei der dritte. Jetzt erst fiel mir auf, daß meine arme Mama fehlte. Bis in die Nacht hinein wurde gespielt, doch keinem der Männer gelang es, einen Herz Hand zu gewinnen. Als Jan Bronski einen Herz Hand ohne Viern ganz unbegreiflicherweise verlor, hörte ich ihn halblaut zu Matzerath sagen: »Agnes hätte das Spiel sicher gewonnen.«
Da glitt ich von Gretchen Schefflers Schoß, fand draußen meine Großmutter und ihren Bruder Vinzent. Sie saßen auf einer Wagendeichsel. Vinzent sprach halblaut die Sterne auf polnisch an.
Meine Großmutter konnte nicht mehr weinen, ließ mich aber unter ihre Röcke.
Wer nimmt mich heut' unter die Röcke? Wer stellt mir das Tageslicht und das Lampenlicht ab? Wer gibt mir den Geruch jener gelblich zerfließenden, leicht ranzigen Butter, die meine Großmutter mir zur Kost, unter den Röcken stapelte, beherbergte, ablagerte und mir einst zuteilte, damit sie mir anschlug, damit ich Geschmack fand.
Ich schlief ein unter den vier Röcken, war den Anfängen meiner armen Mama ganz nahe und hatte es ähnlich still, wenn auch nicht so atemlos wie sie in ihrem zum Fußende hin verjüngten Kasten.
HERBERT TRUCZINSKIS RÜCKEN
Nichts kann eine Mutter ersetzen, sagt man. Schon bald nach Mamas Begräbnis sollte ich meine arme Mama vermissen lernen. Die Donnerstagbesuche beim Sigismund Markus fielen aus, niemand brachte mich mehr zur weißen Berufskleidung der Schwester Inge, besonders die Sonnabende machten mir Mamas Tod schmerzhaft deutlich: Mama ging nicht mehr zur Beichte.
Es blieben mir also die Altstadt fern, die Praxis des Dr. Hollatz, die Herz-Jesu-Kirche. Die Lust an Kundgebungen hatte ich verloren. Wie sollte ich Passanten vor Schaufenstern verlocken können, wenn selbst der Beruf des Versuchers Oskar schal und reizlos geworden war? Es gab keine Mama mehr, die mich ins Stadttheater zum Weihnachtsmärchen, in den Zirkus Krone oder Busch mitgenommen hätte.
Pünktlich allein, doch zugleich mürrisch, ging ich meinen Studien nach, ödete mich durch die gradlinigen Vorstadtstraßen zum Kleinhammerweg, besuchte das Gretchen Scheffler, das mir von KdF-Reisen ins Land der Mitternachtssonne erzählte, während ich unentwegt Goethe mit Rasputin verglich, bei diesen Vergleichen nie ein Ende fand und mich dem strahlend düsteren Kreislauf zumeist durch historische Studien entzog. Ein Kampf um Rom, Kaisers Geschichte der Stadt Danzig und Köhlers Flottenkalender, meine alten Standardwerke gaben mir ein weltumfassendes Halbwissen'. So bin ich heute noch in der Lage, Ihnen genaue Angaben über Panzerstärke, Bestückung, Stapellauf, Fertigstellung, Mannschaftssoll aller Schiffe zu machen, die sich an der Seeschlacht im Skagerrak beteiligten, dort sanken oder beschädigt wurden.
Vierzehn war ich bald, liebte die Einsamkeit und ging viel spazieren. Meine Trommel ging mit, doch zeigte ich mich sparsam auf dem Blech, weil durch Mamas Abgang eine rechtzeitige Belieferung mit Blechtrommeln fraglich war und auch blieb.
War es im Herbst siebenunddreißig oder im Frühjahr achtunddreißig? Auf jeden Fall trippelte ich die Hindenburgallee hoch, in Richtung Stadt, befand mich etwa auf Höhe des Cafés Vier Jahreszeiten, die Blätter fielen ab, oder es platzten die Knospen, auf jeden Fall tat sich etwas in der Natur; da traf ich meinen Freund und Mai-ster Bebra, der in direkter Linie vom Prinzen Eugen, also von Ludwig dem Vierzehnten abstammte.
Drei Jahre lang hatten wir uns nicht gesehen und erkannten uns dennoch auf zwanzig Schritte. Er war nicht alleine, an seinem Arm hielt sich zierlich, südländisch, vielleicht zwei Zentimeter kleiner als Bebra, drei Fingerfertig größer als ich, eine Schönheit, die er mir bei der Vorstellung als Roswitha Raguna, die berühmteste Somnambule Italiens, bekannt machte.
Bebra bat mich zu einer Tasse Mokka ins Cafe Vierjahreszeiten. Wir setzten uns ins Aquarium und die Kaffeetanten zischelten: »Guck ma die Liliputaner, Lisbeth, hasse die gesehn? Ob die im Krone auftreten? Da müssen wä hingehen womeglich.«
Bebra lächelte mich an und zeigte tausend feine, kaum sichtbare . Fältchen.
Der Kellner, der uns den Mokka brachte, war sehr groß. Als Frau Roswitha bei
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