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Die Blechtrommel

Die Blechtrommel

Titel: Die Blechtrommel Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Günter Grass
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einiger Selbstzucht und Beschränkung sollte es Ihnen möglich sein, selbst bei den heutzutage herrschenden politischen Verhältnissen ein Publikum zu finden.«Ich begriff sofort.
    Bebra, der mir geraten hatte, immer auf Tribünen, niemals vor Tribünen zu stehen, war selbst unters Fußvolk geraten, auch wenn er weiterhin im Zirkus auftrat. So war er auch gar nicht enttäuscht, als ich sein Angebot höflich bedauernd ablehnte. Und Signora Roswitha atmete hörbar hinter dem Fächer auf und zeigte mir wieder ihre Mittelmeeraugen.
    Wir plauderten noch ein Stündchen, ich ließ mir vom Kellner ein leeres Wasserglas bringen, sang den Ausschnitt eines Herzens in das Glas, sang schnörklig gravierend rundlaufend eine Inschrift darunter:
    »Oskar für Roswitha«, schenkte ihr das Glas, bereitete ihr Freude, und Bebra zahlte, gab reichlich Trinkgeld, ehe wir gingen.
    Bis zur Sporthalle begleiteten mich die beiden. Ich wies mit dem Trommelstock auf die nackte Tribüne am anderen Ende der Maiwiese und — jetzt erinnere ich mich, es war im Frühjahr achtunddreißig — erzählte meinem Meister Bebra von meiner Laufbahn als Trommler unter Tribünen.
    Bebra lächelte verlegen, die Raguna zeigte ein strenges Gesicht. Und als die Signora einige Schritte abseits stand, flüsterte mir Bebra Abschied nehmend ins Ohr: »Ich habe versagt, lieber Freund, wie könnte ich weiterhin Ihr Lehrer sein. Oh, diese schmutzige Politik!«
    Dann küßte er mich wie vor Jahren, als ich ihm zwischen den Wohnwagen des Zirkus begegnet war, auf die Stirn, die Dame Roswitha reichte mir eine Hand wie Porzellan, und ich beugte mich manierlich, für einen Vierzehnjährigen fast zu routiniert, über die Finger der Somnambulen.
    »Wir sehen uns wieder, mein Sohn!« winkte Herr Bebra, »wie auch die Zeiten sein mögen, Leute wie wir gehen sich nicht verloren.«
    »Verzeihen Sie Ihren Vätern!« ermahnte mich die Signora, »gewöhnen Sie sich an Ihre eigene Existenz, damit das Herz Ruhe bekommt und Satan Mißvergnügen!«
    Es war mir, als hätte mich die Signora noch einmal, doch abermals vergeblich getauft. Weiche Satan — aber Satan wich nicht. Ich sah den beiden traurig und mit leerem Herzen nach, winkte, als sie in ein Taxi stiegen, dort gänzlich verschwanden; denn der Ford war für Erwachsene gebaut, sah leer aus und auf der Suche nach Kundschaft, als er mit meinen Freunden davonbrauste.
    Zwar versuchte ich, Matzerath zu einem Besuch des Zirkus Krone zu bewegen, aber Matzerath war nicht zu bewegen, ganz gab er sich der Trauer um meine arme Mama hin, die er eigentlich nie ganz besessen hatte. Aber wer hatte Mama ganz besessen? Selbst Jan Bronski nicht, allenfalls ich, denn Oskar litt am meisten unter ihrer Abwesenheit, die seinen Alltag störte, sogar in Frage stellte. Mama hatte mich reingelegt. Von meinen Vätern war nichts zu erwarten. Meister Bebra hatte im Propagandaminister Goebbels seinen Meister gefunden. Gretchen Scheffler ging ganz im Winterhilfswerk auf. Keiner soll hungern, keiner soll frieren, hieß es. Ich hielt mich an meine Trommel und vereinsamte gänzlich auf dünngetrommeltem, ehemals weißem Blech. Am Abend saßen Matzerath und ich uns gegenüber. Er blätterte in seinen Kochbüchern, ich klagte auf meinem Instrument. Manchmal weinte Matzerath und barg seinen Kopf in den Kochbüchern. Jan Bronski kam immer seltener ins Haus. Die Politik in Betracht ziehend, waren beide Männer der Meinung, man müsse vorsichtig sein, man wisse nicht, wie der Hase laufe. So wurden Skatrunden mit wechselnden dritten Männern immer seltener und wenn, dann nur zu später Stunde, alle politischen Gespräche vermeidend, in unserem Wohnzimmer unter der Hängelampe veranstaltet. Meine Großmutter Anna schien den Weg aus Bissau zu uns in den Labesweg nicht mehr zu finden. Sie grollte Matzerath, vielleicht auch mir, hatte ich sie doch sagen hören: »Maine Agnes, die starb, wail se das Jetrommel nich ma hält vertragen megen.«
    Wenn schon schuldig am Tod meiner armen Mama, klammerte ich mich dennoch um so fester an die geschmähte Trommel; denn die starb nicht, wie eine Mutter stirbt, die konnte man neu kaufen, vom alten Heilandt oder vom Uhrmacher Laubschad reparieren lassen, die verstand mich, gab immer die richtige Antwort, die hielt sich an mich, wie ich mich an sie hielt.
    Wenn mir die Wohnung damals zu eng wurde, die Straßen zu kurz oder zu lang für meine vierzehn Jahre, wenn tagsüber sich keine Gelegenheit bot, den Versucher vor Schaufenstern zu

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