Die Blume von Surinam
der Schule …«, stammelte er atemlos.
Jean zerzauste sanft Henrys blonden Haarschopf, und Julie war tief berührt von der Zärtlichkeit dieser Szene. »Nun warte mal, wir sind doch auch gerade erst angekommen. Martin?«
»Jean, Tante Juliette.«
Julie registrierte den nüchternen Tonfall und trat einen Schritt auf Martin zu, der wie immer auf Distanz geblieben war. Er stand mit verschränkten Armen im Flur und machte eine ausweichende Bewegung, als Julie ihm zur Begrüßung die Hand auf die Schulter legen wollte. Julie spürte, wie sich Enttäuschung in ihr ausbreitete. Jedes Mal hoffte sie inständig auf ein wenig Nähe und Wärme, jedes Mal wurde sie wieder enttäuscht. Der Junge war so anders als Henry! Natürlich, sie hatte kein Recht, Nähe zu fordern, trotzdem schmerzte sie der Mangel daran. Das fing schon bei der Anrede an. Natürlich war Julie nicht seine Tante. Aber sich von Martin mit Großmutter anreden zu lassen, das hatte Julie nie gewollt. Martins Mutter war damals schließlich kaum jünger als Julie selbst gewesen, als Julie deren Vater, Martins Großvater, geheiratet hatte.
Nach dem Tod von Martins Mutter hatte sich Julie des Kindes angenommen, wie sie es ihrer Stieftochter auf dem Sterbebettversprochen hatte. Martins Vater wurde vor vierzehn Jahren nach grausigen Vorfällen zu Gerichtsverhandlungen in die Niederlande geschickt, und Julie hoffte insgeheim, dass er nie wieder auftauchen würde. Diesen Wunsch hielt sie vor Martin natürlich geheim, ebenso wie die Details über die damaligen Ereignisse. Der Junge selbst fieberte dem Tag entgegen, an dem er seinen Vater wiedersehen würde, und Julie konnte es ihm nicht einmal verübeln. Er war damals ein Kleinkind gewesen und hatte die Geschehnisse nicht verstehen können. Trotzdem hatte Martin mit zunehmendem Alter ein durchweg positives Bild und eine starke Sehnsucht nach seinem Vater entwickelt, was Julie zwar verstehen konnte, was ihr aber in gleichem Maße Angst einflößte. Mit Martin selbst hatte sie nie darüber geredet, es waren Henry und Karini, die ihr hin und wieder Bruchstücke von Martins Hoffnungen preisgaben. Die beiden genossen sein Vertrauen mehr als Julie und Jean es je tun würden. Julie aber wusste, dass Martins Bild von seinem Vater irgendwann zerbrechen würde, und sie fürchtete sich vor dem Moment, in dem er Fragen stellen würde. Auch wenn sein Vater ihm zweimal im Jahr einen Brief schrieb und augenscheinlich bemüht war, den Kontakt zu ihm zu halten, wusste Julie nur zu genau, dass es dem Vater dabei nicht um seinen Sohn ging, sondern vielmehr um etwas ganz anderes. Und davor würde sie nicht nur Martin, sondern auch ihren eigenen Sohn beschützen müssen.
Julie seufzte. Lange Zeit hatte ihr das verworrene Familiengeflecht Bauchschmerzen bereitet. Denn genau genommen war Henry Martins Onkel. Karl hatte Henry immer für seinen Sohn gehalten. Dass in Wirklichkeit Jean der Vater von Henry war, das wussten nur sie und Jean – und das musste auch so bleiben, denn nur so war Henry der rechtmäßige Erbe der Plantage, die Karl damals nur hatte halten können, weil Julies großes Vermögen hier investiert worden war. Daher empfand sie Rozenburg absolut als ihren Besitz und so sollte es bleiben.
Doch es bedrückte sie, dass ihr Sohn zu seinem leiblichen Vater nie Vater sagen würde. Henry hatte Jean dennoch immer als seinen Vater erlebt, auch wenn er ihn nur beim Vornamen nannte. Erst als sie Jean nach Ablauf ihrer offiziellen Trauerzeit und einer angemessenen Zeitspanne schließlich geheiratet hatte, war ein wenig Last von ihren Schultern gefallen. Julie war erleichtert gewesen, den Namen Leevken ablegen zu können. Aber Henry trug ihn weiterhin, und dies sollte auch so bleiben, solange es jemanden gab, der Julie und Henry die Plantage streitig machen konnte: Martins leiblichen Vater. Pieter Brick.
Kapitel 3
D ie Lalla Rookh schob sich langsam in die Mündung des Surinamflusses. Es war Anfang Juni, und nach den langen Wochen auf See breitete sich unter den Passagieren beim Anblick von Land freudige Stimmung aus.
Inika stand auf wackeligen Beinen an der Hand ihres Vaters an der Reling. Nur schaute Inika nicht, wie die meisten Passagiere um sie herum, erwartungsvoll auf das Land, sondern war in Gedanken bei ihrer Mutter, die unter Deck lag, zu schwach, um aufzustehen. Die schlechte Verpflegung, die Enge des Schiffsbauchs und die lange Reise über das Meer hatten Krankheit und Elend an Bord heraufbeschworen. Inika war schon
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