Die Blume von Surinam
wandte sich um und floh zurück in den dunklen Schiffsbauch, den Matrosen polternd und stolpernd hinter sich. Mit einem Satz sprang Inika in eine der dunklen Kojen und hoffte, dass er sie nicht sehen würde. Ihr Herz klopfte bis zum Hals, als der Mann näher kam, jetzt mit einem lockenden, rauen Singsang. Inika hielt voller Panik die Luft an und drückte sich in die hinterste Ecke. Erleichtert hörte sie, dass seine Schritte an der Koje vorbeiführten. Doch wie lange würde er sich täuschen lassen? Sie wartete, bis er sich noch ein wenig weiter entfernt hatte, dann nahm sie allen Mut zusammen, sprang aus ihrem Versteck und rannte los. Der Mann rief ihr etwas nach, aber Inika hörte keine Schritte mehr hinter sich. Verzichtete er etwa darauf, ihr zu folgen? Sie wagte nicht, sich umzudrehen, und kletterte hastig hinauf an Deck. Die helle Sonne blendete sie kurz, und sie brauchte einen Moment, um sich zu fassen. Sie sah, dass sich alle Passagiere an einer Stelle an Deck drängten. Hatte man doch schon mit dem Übersetzen angefangen? Ihre Augen suchten das Deck nach ihrem Vater und ihrer Mutter ab, konnten sie in dem Gedränge aber nicht erblicken. Es waren immerhin fast vierhundert Menschen, die jetzt möglichst schnell das Schiff verlassen wollten.
Plötzlich spürte sie einen harten Griff an der Schulter. Ein hochgewachsener Mann sagte etwas in einer fremden Sprache zu ihr, das sie nicht verstand. Sein Blick war mürrisch, und seine buschigen Augenbrauen zog er so zusammen, dass sie sich fast über der Nasenwurzel berührten. Seine Finger gruben sich schmerzhaft in Inikas Schulter.
Sie versuchte, sich loszureißen, und rief laut: »Meine Eltern! Meine Eltern sind da vorne irgendwo!«
Doch der Mann verstand sie ganz offensichtlich nicht und Inika spürte die Panik in sich wachsen. Wieder und wieder rief sie die Worte, doch der Mann starrte sie nur wütend an. Schließlich packte er sie barsch am Oberarm und deutete mit dem Finger mehrmals auf den Boden. Offensichtlich wollte er, dass sie dort stehen blieb. Inika überlegte fieberhaft, was sie tun konnte. Der Mann schien wütend, und sie mochte sich nicht ausmalen, was geschah, wenn sie seinen Anweisungen nicht folgen würde. Sie traute sich nicht, an ihm vorbeizuhuschen, außerdem würde es hier auf dem Boot schwer werden, ihm zu entkommen. Und wie sollte sie ein Boot erreichen, ohne dass er es bemerkte? Sie warf einen kurzen Blick über die Reling und sah, dass schon zahlreiche Boote mit Menschen an Bord in Richtung Ufer ruderten. Aus dem Augenwinkel erblickte sie nahe dem Ufer ein Boot, auf dem, so meinte sie, der orangefarbene Sari ihrer Mutter aufblitzte. Sie kniff die Augen zusammen, um besser sehen zu können, da hatte sich das Boot aber schon wieder seitlich gedreht. »Mama!«, schrie sie laut, in dem Versuch, das Gemurmel der Menschen an Bord und die Entfernung zu übertönen. Sie zog den Mann hektisch am Ärmel und zeigte mit dem Finger in Richtung Ufer.
Aber der Mann, der rücklings zu ihr stand, drehte nur kurz den Kopf und wies mit dem Finger auf die Stelle, an der Inika stand. Sie sollte da stehen bleiben. Inika spürte, wie Tränen in ihre Augen traten und ergab sich ihrem Schicksal. Welche andere Wahl hatte sie? Sie würde hier ausharren, bis man sie in ein Boot setzte und zum Ufer brachte. Dort würden ihre Eltern auf sie warten.
Dass es aber noch einige Stunden dauern würde, bis man sie, neben einem Jungen, der ebenfalls verwirrt und allein an Deck gestanden hatte, in das letzte Boot setzte, als alle anderen Passagiere bereits fortgebracht worden waren, das ahnte das Mädchen nicht.
Kapitel 4
F indest du nicht, dass er immer stiller wird?« Julie sah Martin mit besorgtem Blick nach, der sich gleich nach dem Abendessen sehr förmlich entschuldigt hatte, mit der Bitte, sich in sein Zimmer zurückziehen zu können.
»Julie, er ist fast sechzehn, und wir haben uns wochenlang nicht gesehen: Ich denke, er braucht einfach etwas Zeit.« Jean blätterte in Henrys Schulheften, die der Junge ihm sichtlich begeistert zur Ansicht gegeben hatte. Er war schon wieder losgelaufen, um noch etwas zu holen, was er seinen Eltern unbedingt zeigen wollte.
»Hier, schau mal, er wird noch Mathematiker.« Mit einem stolzen Gesichtsausdruck hielt Jean Julie ein sauber und ordentlich mit Zahlen gefülltes Heft hin. Julie lächelte und zwinkerte Jean zu. Als sie ihn nun einen Moment von der Seite betrachtete, während er die Heftseiten genau studierte, durchfuhr sie
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