Die Blut-Loge
Ungewissheit, Neugier und Erinnerung. Vor dem Verlies seiner Mutter riss er die Eisenriegel aus dem Holz und öffnete die Tür. Im ersten Augenblick erschrak er.
Dieses heruntergekommene Geschöpf sollte seine Mutter sein? Bela starrte fast mit Abscheu auf die Vampirin, die ihm ihre Arme entgegen streckte. Er hatte sich das Wiedersehen anders vorgestellt.
Estelle freute sich zunächst über den Anblick ihres so groß gewordenen Sohn. Wie schön er ist, dachte sie noch fast bewundernd, dann witterte sie den Geruch des Blutes und ihr wurde einiges klar. Er hat keine Seele mehr, war ihr nächster Gedanke. Enttäuscht ließ sie die Arme sinken, in die ihr Sohn niemals zurückkehren würde. Er kam wohl doch ganz auf seinen Vater. Heißer Zorn stieg in ihr hoch. Aber das ließ sie sich nicht anmerken.
„Danke, dass du mich befreit hast“, sagte sie stattdessen in einem kühlen Tonfall und ging an ihm vorbei, hinauf in ihr altes Zimmer. Dort machte sie sich frisch und fand noch ein paar alte Kleidungsstücke von sich im Schrank. Während sie sich umzog, sah sie immer wieder vor ihrem geistigen Auge das Gesicht eines niedlichen, kleinen Jungen, der sie mit vergnügtem Quietschen zum Spielen aufforderte. Dennoch blieb ihr Herz kalt bei diesen Erinnerungen. War es das immer schon gewesen? Sie verließ das düstere Schloss, Geburtsort und Todesstätte ihres Sohnes und des zweifelhaften Gefühls der Zuneigung, das sie für ihn empfunden hatte, noch bevor der Morgen dämmerte.
* * *
Einige Monate nach seinem abgebrochenen Urlaub in Mexiko hatte Kommissar Thilo Weinbach seinen Job gekündigt. Er sah keinen Sinn mehr darin, menschliche Verbrecher zu jagen, während die größten Übeltäter, die Vampire, völlig frei unter ihnen herum laufen konnten. Er wollte diese Sache jetzt zu Ende bringen!
„Ich könnte wetten, du hast ihn schon in deinen Klauen, Ruben Stark“, sagte er zu sich selbst, während er im Keller in den alten Kartons nach der Ampulle wühlte, die Estelle zurückgelassen hatte.
„Aber so leicht kommst du mir nicht davon! Irgendwie kriege ich dieses Zeug in dich hinein, auf das du mal so scharf warst! Und wenn ihr beide daran glauben müsst!“
Wütend schleppte er die teilweise noch verpackten Kosmetikartikel in seine Wohnung und warf sie in den Koffer. Sein Flug nach L.A. war schon gebucht.
„Vielleicht bin ich der Letzte, der über euch und eure miesen Pläne Bescheid weiß. Und was Evi konnte, kann ich schon lange.“
Über seinen Plan war er sich selber noch nicht im Klaren. Aber Ruben Stark würde die Droge bestimmt nicht mehr freiwillig nehmen.
In Los Angeles angekommen, mietete er ein schäbiges, kleines Apartment und besorgte sich eine Druckluftpistole, wie man sie zur Betäubung wilder Tiere einsetzte. Die restliche Ampulle reichte für einen einzigen Versuch! Dann kaufte er einen alten, aber immer noch repräsentativen Wagen, fuhr nach Beverly Hills und begann mit der Observation der Stark-Villa.
Thilo Weinbach war auf seinem Beobachtungsposten eingeschlafen. Leere Kaffeebecher, Chipstüten und Müsliriegel türmten sich auf dem Beifahrersitz. Etwas klopfte heftig an die Scheibe seines Wagens. Thilo schreckte hoch.
„Was zum….“ Er rieb sich die Augen.
„Was zum Teufel machst du hier?“, ergänzte eine Frauenstimme fragend von außerhalb der Scheibe. Es war Estelle, seine frühere Evi.
„Das glaub ich jetzt nicht! Du lebst? Wie bist du diesen Ungeheuern entkommen?“
Thilo hatte tausend Fragen, aber zunächst einmal räumte er hastig den Beifahrersitz auf und ließ seine ehemalige Kollegin einsteigen. Estelle sah immer noch nicht ganz fit aus. Die Narben an Hals und Schultern waren trotz des neuen T-Shirts deutlich zu erkennen. Sie wirkte müde und blass.
„Ich würde dir ja einen Kaffee anbieten, aber ich weiß ja, dass du darauf nicht mehr so stehst“, versuchte er, sie aufzuheitern.
„Erzähl mir lieber, was DU hier machst!“, forderte sie ihn auf.
Mit knappen Sätzen informierte der ehemalige Kommissar sie über seine Pläne und die bisherigen Ereignisse. Er zeigte ihr die Druckluftpistole, die er hinter den Sitz gelegt hatte, und die bereits mit der letzten Ampulle „Red Honey“ geladen war.
„Danke“, sagte sie nur müde und lehnte den Kopf an den Sitz.
„Danke wofür?“
„Dass du wenigstens versuchst hast, meinen Sohn zu retten. Ruben ist einfach zu mächtig.“
„Ich bin es satt, vor diesen Typen zu kuschen“, knurrte Thilo.
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