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Die Blut-Loge

Die Blut-Loge

Titel: Die Blut-Loge Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carola Kickers
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I.
     
    Jerome Summers stand am Fenster seines Lofts hoch über der Stadt und beobachtete das tosende Leben auf den Straßen unter ihm. Seine Wohnung lag in der Nähe der Hamburger Speicherstadt in einem Gebäude, das früher als Lagerhaus diente und welches man in großzügige Wohnungen und Büroetagen aufgeteilt hatte. Nur die rote Backsteinfassade mit den verblassten riesigen weißen Buchstaben der letzten Eignerfirma darauf erinnerte noch an den ursprünglichen Zweck.
    Bis zu ihm hinauf drang das Hupen ungeduldiger Autofahrer, die stampfende Musik aus den Lautsprechern, die eiligen Schritte der Passanten, das Lachen von fröhlichen jungen Menschen. Auch nach Einbruch der Dunkelheit kam Hamburg nicht zur Ruhe. Die glitzernden Lichter lockten den jungen Mann hinaus in die warme Sommernacht. Seine geschärften Sinne nahmen den Puls der Stadt und den Atem der Nacht mit jeder Faser seines Körpers wahr. Die Atmosphäre hier erinnerte ihn an seine Heimat.
    Er warf einen Blick zurück auf das breite Bett, in dem sich ein junger, halb nackter Mädchenkörper verschlafen zwischen den weißen Laken räkelte. Konzentriert lauschte der junge Mann mit seinem feinen Gehör den flachen Atemzügen seines Gastes. Hatte er etwa zu viel genommen? Nein, der Herzschlag klang regelmäßig. Gott sei Dank!
    Es war ein Leichtes gewesen, die Kleine dort gestern Abend abzuschleppen, aber es wurde immer schwieriger, so jemanden wie sie überhaupt zu finden. Nach seinem Auftritt im Heartbeat hatte er versucht, neue Witterung aufzunehmen. Der Jagdinstinkt gehörte seit langem zu seinem Leben. In der Diskothek La Cave an der Ecke, in der er mit einigen Kollegen aus der Truppe noch einen Absacker getrunken hatte, war ihm das Mädchen aufgefallen. Sie passte in sein ausgefallenes Beuteschema! Alkohol hatte auf Jerome überhaupt keine Wirkung, er ging nur mit, um seine eigenen, ganz speziellen Bedürfnisse zu decken. Er sprach die achtzehnjährige Helena an - eine süße Brünette, die eher schüchtern auf sein aufmunterndes Lächeln reagiert hatte. Es hatte viel Überredungskunst und etliche Drinks gekostet, bis sie mit ihm gegangen war. Jerome seufzte. Er hatte kein leichtes Los gewählt. Aber was tat man nicht alles für seine Karriere. Und sein Leben war die Bühne, auf der er jedes Wochenende überzeugte. Dafür würde er alles tun. Die Glitzerwelt des Showgeschäfts war eine perfekte Fassade für Jerome Summers, hinter der er sein wahres Ich verbergen und – wenn es nötig sein sollte – unter anderem Namen untertauchen konnte. Das hatte er im Laufe der Zeit oft genug getan. Namen waren für ihn wie Kleidungsstücke, die man an- und ablegen konnte. Der junge Mann am Fenster lächelte still in sich hinein und seine Gedanken glitten zurück in die Vergangenheit.

Venedig im 17. Jahrhundert.
     
    Jerome - damals war sein Name noch Giacomo - war als halbwüchsiger Junge zu einer Gruppe Komödianten gestoßen. Als Waise musste er sich allein mit Bettelei und Stehlen durchschlagen, immer auf der Flucht vor den uniformierten Schergen, die ihn in eines der verhassten Arbeitshäuser bringen würden, die eher Arbeitslagern glichen. Schmutzig, zerlumpt und halb verhungert war er eines Tages zum fahrenden Volk gekommen. Dort nahm man ihn herzlich auf, kleidete ihn in bunte, wenn auch abgetragene Kleidung, lehrte ihn allerlei Taschenspielertricks und Kunststücke, mit denen er sich nützlich machen konnte, vor allem, wenn die Leute ihr Geld nicht freiwillig gaben.
    Einige Jahre zog er mit der Truppe herum, bis sie eines Tages eine Einladung zu einem Fest im Palazzo der Signora di Viano erhielten. Es war kurz nach Jeromes achtzehntem Geburtstag. Die Signora selbst war eine wunderschöne Frau von Anfang dreißig, was zur damaligen Zeit schon recht alt war. Sie trug ihr tizianrotes Haar, das ihren makellosen Teint betonte, in Locken hochgesteckt und mit Juwelen besetzen Kämmen geschmückt. Diese blassen, weißen Perücken, wie sie damals jedermann zu tragen pflegte, lehnte sie strikt ab. Bei ihrem Vermögen konnte man sich solche Eskapaden leisten. Clarissa di Viano hatte drei Ehemänner auf tragische Weise verloren. Zwei davon erlagen seltsamen Fiebern. Den Letzten hatte man ertrunken in den Kanälen gefunden. So war ihr ein nicht unbeträchtliches Erbe geblieben und ein Adelstitel noch dazu.
    Bei der besagten Feier hatte sie unverkennbar ein Auge auf den hübschen, mageren jungen Mann geworfen, der ihre Blicke erst gar nicht recht zu deuten wusste.

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