Die Blut-Loge
den erschöpften, neuen „Leftover“ bis zum Anbruch des nächsten Tages schlafen. Wäre sie noch ein Mensch gewesen, hätte sie bestimmt ein schlechtes Gewissen gehabt. Für Vampire war das eher ein Fremdwort. Estelle seufzte leise. Der Preis für die Ewigkeit wurde von Tag zu Tag höher, schien es ihr.
Der schottische Himmel zeigte sich grau und wolkenverhangen. Ab und zu glitt ein Sonnenstrahl zwischen die dahin treibenden Wolken auf den Boden und tauchte das feuchte Gras in ein grün-goldenes Licht. Eine wilde, unwirkliche Gegend, durchbrochen von Felsen und kleinwüchsigen Sträuchern. Von einem gegenüber liegenden Hügel aus beobachteten die Beiden das Treiben auf St. Annas Castle mit einem Fernglas. Es herrschte eine trügerische Ruhe auf dem Schloss. Ein paar Pferde grasten vor dem Anwesen auf den abgezäunten Weiden. Geländetaugliche, chromglänzende Wagen standen vor der Auffahrt.
„Wie lautet dein Plan?“, fragte Thilo die schöne, junge Frau neben ihm. Das frische Blut hatte sie zu alter Kraft erwachen lassen. Sein Kreislauf war dagegen erst langsam und nach einer kräftigen Mahlzeit in einem Gasthaus wieder auf Touren gekommen.
„Ehrlich gesagt habe ich keinen. Aber ich weiß, dass wir das Dynamit im Keller anbringen sollten. Die Statik des Gewölbes müsste dann das gesamte Haus zusammenbrechen lassen.“
„Ziemlich wage Vorstellung, es sei denn, du hast mal auf dem Bau gearbeitet“, knurrte Thilo.
„Mein Ex-Freund war Architekt“, war ihre lapidare Antwort.
„Wie willst du da rein kommen?“, fragte er sie jetzt.
„Es gibt zwei Möglichkeiten. Entweder offiziell als Mutter meines Sohnes – die sollte schließlich auf der Hochzeit dabei sein – oder heimlich direkt in den Keller. Schließlich habe ich monatelang da gewohnt und kenne jeden Winkel in dem alten Kasten.“
„Und was würdest zu vorziehen?“, wollte er wissen.
Estelle blickte an sich hinunter. Sie trug einfache Jeans und ein kariertes Hemd. Die Haare hatte sie zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden. „Da ich nicht gerade passend angezogen bin, würde ich den Keller vorziehen“, verkündete sie trocken.
„Typisch Frau“, schmunzelte Thilo.
Viel schwieriger würde es werden, sich unbemerkt an die Schlossmauern anzuschleichen, und das sollte noch bei Tageslicht geschehen, bevor die Vampire zu aktiv würden. Wie bei einer militärischen Übung nutzten die Beiden jeden Felsvorsprung und jede noch so kleine Deckung aus, bis sie vor der fast zugewachsenen Metalltüre zum Kohlenschacht standen, die direkt in den Boden eingelassen und nur mit einem einfachen Riegel verschlossen war.
Im Roten Salon sollte heute Abend die Vermählung der beiden ungleichen Vampire stattfinden. Hochrangige Mitglieder der Loge hatten sich bereits eingefunden. Einige bedienstete Leftovers sorgten für eine angemessen festliche Dekoration aus samtenen schwarzen Tüchern und roten Rosen. Goldene Kelche standen auf dem langen Tisch, der auf die Gesellschaft wartete. An den Wänden des Salons hingen nicht nur Bilder, sondern eingemauerte schwere Eisenketten herab. Diese waren für die eingekerkerten Opfer vorgesehen, die den Durst der Anwesenden heute stillen sollten. Bei solchen Festlichkeiten waren solche „Leckerbissen“ der Fertignahrung vorzuziehen.
Von Ruben Stark gab es bislang keine Nachrichten und Bela machte sich langsam Sorgen. Lady Rilana schob die Nervosität des jungen Mannes auf die bevorstehende Hochzeitsnacht. Dabei war sie gut doppelt so alt wie er – menschliches Alter, versteht sich. Für Bela war das eine reine Zweckverbindung. Er sah in der älteren Frau nur ein Mittel zu weiterer Macht, genau wie sein Vater. Und so freuten sich alle: Lady Rilana auf die Hochzeit, Bela auf die Herrschaft über die einflussreiche Loge, und die übrigen Gäste auf das opulente Mahl in Form von fünf Mädchen und drei Jungen, die im Verlies gefangen gehalten wurden und ihnen zur Unterhaltung und Erfrischung dienen sollten.
An ungebetene Gäste dachte niemand, aber gerade die krochen im Augenblick durch einen ehemaligen Kohleschacht in den Keller. Thilo hatte vorsichtshalber eine Taschenlampe mitgenommen, aber er vertraute Estelle, die ihn mit katzenhafter Sicherheit durch die labyrinthartigen Gänge führte. Sie konnte in der Dunkelheit nicht nur gut sehen, sondern nahm auch alle anderen Dinge wahr. Ihre vampirischen Fähigkeiten waren sozusagen sein Radar in dieser grabesähnlichen, feuchtkalten Umgebung. Trotzdem
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