Die blutende Statue
»In Entrevaux ist ein Wunder geschehen.«
Die Weltpresse schrieb darüber und im Januar des folgenden Jahres reiste Jean Leroi mit der Statue im Gepäck nach Paris. Er hatte allen Grund, optimistisch zu sein: Anfang 1954 sprach so gut wie jeder über die Statue. Lediglich bei dem alten Pfarrer von Entrevaux war die Begeisterung etwas gedämpft. Jean Leroi war natürlich zu ihm geeilt, um ihm diese Neuigkeit zu melden. Als Einziger im Dorf bekundete der Pfarrer keinerlei Interesse an dem so genannten Wunder, sondern bemerkte lediglich: »Nun, wenn Ihre Statue blutet, dann lassen Sie sie bluten!«
Als Jean Leroi in der französischen Hauptstadt eintraf, vergaß er diese gleichgültige Bemerkung schnell. Die Statue wurde in einer Vitrine ausgestellt. Unter ihrem kaputten Finger befand sich ein Glas, das weitere Blutstropfen auffangen sollte, und die Menschen strömten herbei, um das Wunder zu sehen. Eine große politische Wochenzeitung widmete dem Wunder von Entrevaux einen langen Artikel und meldete keinen weiteren Zweifel an. Man erwog, die Statue in allen großen Städten Frankreichs, Europas sowie in Caracas, der Hauptstadt von Venezuela, deren Schutzpatronin die heilige Anna ist, auszustellen.
Jean Leroi allerdings, inzwischen etwas zurückhaltender geworden, wollte mit seiner kostbaren Statue nach Entrevaux zurückkehren. Kaum zu Hause, wurde er, der Freidenker, zu einem sehr gläubigen Menschen, was als neuerliches Wunder angesehen wurde. Es begann nun ein unglaublicher Zustrom von Gläubigen, die das Wunder des blutenden Fingers erleben wollten. Pilger kamen aus ganz Frankreich und aus dem Ausland. Entrevaux, das bescheidene Dorf der Region Basses-Alpes, war auf dem besten Weg, Lourdes Konkurrenz zu machen.
Die Statue, die von nun an, wenn auch ungenau — denn es geht ja nicht um die Jungfrau Maria, sondern um deren Mutter — als »Jungfrau von Entrevaux« bezeichnet wurde, wurde in der Dorfkneipe ausgestellt. Dies führte zum Wohlstand des Besitzers, da das Lokal immer brechend voll war. Täglich wurden hier hunderte von Mahlzeiten verzehrt und jeder Pilger kaufte die Wundermedaille, deren Erlös ausschließlich Jean Leroi zugute kam. Lediglich die Haltung der Kirche betrübte ihn. Von Anfang an verhielt sie sich äußerst distanziert, der Bischof weigerte sich sogar, sich überhaupt dazu zu äußern. Und der alte Pfarrer zeigte sich unverblümt feindselig.
Ende 1954 sah Jean Leroi einen Besucher in seine Kneipe eintreten, der sich von den anderen unterschied. Er war ungefähr fünfzig. Seine Kleidung verriet eine lässige Eleganz: Er trug einen hellen Anzug, ein Seidenhemd und eine Fliege. Der Mann sprach ihn mit leicht italienischem Akzent an:
»Werter Herr, ich glaube, ich kann Ihnen nützlich sein. Ich heiße Michel Antonini, bin Bildhauer und habe mich auf sakrale Kunst spezialisiert. Die kleinen Medaillen sind nicht genug, man muss Reproduktionen der Statue verkaufen.«
»Und Sie könnten mir welche anfertigen?«
»Viele, hunderte.«
»Das ist interessant. Wie viel verlangen Sie pro Statue?«
»Ich sehe das etwas anders. Damit ich arbeiten kann, muss ich die Statue bei mir haben. Ich kaufe sie Ihnen ab.«
»Das können Sie vergessen!«
Die Verhandlung verlief ziemlich hart. Schließlich einigten sich die beiden Männer auf einen Kompromiss: Jean Leroi blieb Eigentümer der »Jungfrau von Entrevaux« und lieh sie Michel Antonini für hunderttausend Franc pro Monat. Das entsprach damals ungefähr zehntausend neuen Franc bzw. eintausendsiebenhundert Euro heute. Der Bildhauer zahlte die erste Monatsrate und nahm die Statue mit, um, wie er sagte, die erste Kopie anzufertigen.
Ein Betrüger fällt meistens auf einen noch größeren Betrüger herein. Jean Leroi hätte sich zuerst einmal darüber Gedanken machen müssen, bevor er sich so ohne weiteres von diesem Huhn, das goldene Eier legte, trennte. Natürlich würde er die Statue nie wieder sehen und nie mehr dafür bekommen als diese hunderttausend Franc. Aber auch wenn die Jungfrau Entrevaux verließ, bedeutete dies nicht zwangsläufig das Ende der Jungfrau von Entrevaux, weit gefehlt! Michel Antonini war aus ganz anderem Holz geschnitzt als der Besitzer der Dorfkneipe und betrachtete die Dinge in einem größeren Rahmen.
Er fuhr ebenfalls mit der Statue nach Paris. Bei ihm, das muss man unbedingt erwähnen, gab es keinen »wunderbaren« blutenden Finger mehr, was ihn aber auch nicht daran hinderte, ein kleines Vermögen zu machen.
Er ließ
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