Die Bluterbin (German Edition)
Schreck wagte sie kaum noch zu atmen.
Wie gebannt blickte Bruder Gregor durch das Loch. Was er sah, war nur schwer für ihn zu ertragen, und er wäre am liebsten in den Raum gestürmt, um Radulfus zurückzureißen. Der geistige Zustand des Bischofs war bei Weitem schlimmer, als er befürchtet hatte.
Radulfus hob den Kopf und sah an Marie hoch. Sein Blick blieb an der feinen Wölbung ihrer Brust hängen, die sich bei jedem Atemzug kaum merklich hob und senkte. Er sprang so plötzlich auf, als wäre er von irgendetwas gestochen worden. Augenblicklich wurde seine Miene wieder finster, und seine Geiernase zuckte. Wütend starrte er auf das verängstigte Mädchen.
Dann griff er unbeherrscht in Maries langes Haar und riss ihren Kopf so weit nach hinten, dass er ihr ins Gesicht sehen konnte.
„Ihr seid eine Hure, genau wie all die anderen. Der Teufel hat Euch gesandt, um mich in Versuchung zu führen.“ Genauso plötzlich wie er sie gepackt hatte, ließ er Marie wieder los und begann von Neuem, unruhig auf und ab zu wandern.
„Es gibt Möglichkeiten, um die Wahrheit aus Euch herauszupressen“, stieß er zornig hervor. „Euer Stolz und Eure Verbohrtheit werden Euch dann nichts mehr nützen, und Ihr werdet betteln und winseln, um die Wahrheit aus Euch herausschreien zu dürfen.“
Ruckartig wirbelte er herum und beugte sich zu Marie hinunter. „Ich werde so lange wiederkommen“, sagte er drohend, „bis Ihr mir tatsächlich alles gesagt habt, was ich wissen will.“
Bruder Gregor hatte genug gehört und beeilte sich, wieder nach oben zu kommen. Er hatte die Treppe gerade erreicht, als er hörte, wie die schwere Holztüre am Ende des Ganges mit einem Knall zugeworfen und der Riegel vorgeschoben wurde. Rasch rannte er nach oben und zurück in den Schreibraum.
Dort trat er an das Schreibpult des Bischofs und griff nach einer Feder.
Mit wirrem Haar lief Radulfus an ihm vorbei, ohne ihn zu bemerken. Tiefe dunkle Ringe hatten sich unter seinen Augen gebildet und ließen den Blick des Bischofs noch düsterer wirken als sonst.
„Monsignore, wartet!“
Radulfus fuhr herum und starrte Bruder Gregor an, als wäre er ein Geist. „Wie seid Ihr hier hereingekommen? Ich habe extra Anweisung gegeben, von niemandem gestört zu werden“, fuhr er den Mönch an und fixierte ihn mit seinen stechenden Augen.
„Ich habe eine Nachricht von höchster Wichtigkeit für Euch und wollte nicht länger damit warten, sie Euch zu überbringen. Als ich Euch nirgends finden konnte und auch keiner von Euren Dienern zu sehen war, habe ich beschlossen, meine Nachricht für Euch niederzuschreiben.“
Demonstrativ legte er die Feder beiseite.
„Aber das ist jetzt ja nicht mehr nötig.“
Bruder Gregor war bei Weitem nicht so ruhig, wie er sich nach außen gab. Er fühlte sich unbehaglich unter Radulfus’ durchdringendem Blick, der ihn mit unverhohlenem Misstrauen musterte.
„Redet endlich. Was ist so wichtig, dass Ihr entgegen meinem Befehl in meine Gemächer eindringt?“
„Ich dachte, es würde Euch interessieren, dass die Tochter des Tuchhändlers verschwunden ist“, bemerkte er gleichmütig.
Etwas wie Unsicherheit flackerte in den Augen des Bischofs auf, was Bruder Gregor nicht entging. Er fühlt sich ertappt, dachte er bei sich und frohlockte innerlich.
Lauernd sah Radulfus ihn an. Seine Nase begann zu zucken, wie immer, wenn er aufgewühlt war. Zu lange schon hatte er diesem hinterhältigen Mönch vertraut, und wenn er Otto nicht gehabt hätte, würde er es heute noch tun. Otto war derjenige gewesen, der den Boten abgefangen hatte, den Bruder Gregor hinter seinem Rücken zum Erzbischof gesandt hatte, um ihn bei diesem anzuschwärzen.
Ich hätte ihn gleich beseitigen lassen sollen, dachte Radulfus und war wütend auf sich selbst. Doch das Mädchen hatte so stark Besitz von seinen Gedanken ergriffen, dass es ihm in den letzten Wochen kaum noch gelungen war, sich auf irgendetwas anderes zu konzentrieren. Instinktiv spürte er, dass Bruder Gregor mehr wusste, als er zugab. Ob er es etwa gewagt hatte, ihm nachzuspionieren? Zuzutrauen wäre es ihm. Er beschloss, kein weiteres Risiko mehr einzugehen. Sobald der Mönch seine Gemächer verlassen hätte, würde er Otto zu sich rufen lassen.
„Ich bin Bischof und habe weitaus wichtigere Aufgaben, als mich um verschwundene Bürgertöchter zu kümmern. Trotzdem danke ich Euch für Eure Mühe. Wenn Ihr mich jetzt bitte entschuldigen wollt, ich muss zurück an meine Arbeit“, beschied
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