Die Blutgraefin
nicht aufgegangen war. Auf sein Zeitgefühl war kein Verlass mehr. Wie viel
Zeit mochte vergangen sein, seit er eingeschlafen war? Er lauschte,
vernahm aber nur die ganz alltäglichen Geräusche eines frühen Wintermorgens: Balken knarrten, der Wind heulte und jammerte, irgendwo klapperte Geschirr. Vielleicht würde er Maria in der Küche
antreffen.
Andrej verließ das Zimmer und ging die Treppe hinunter. Er durchquerte mit raschen Schritten die Halle, wobei er, ohne es selbst zu
bemerken, den Blick gesenkt hielt, als fürchte ein Teil von ihm, etwas zu erblicken, was er nicht erblicken wollte, wenn er seiner Umgebung zu viel Aufmerksamkeit schenkte. Erwartungsvoll stieß er
die Küchentür auf und hielt überrascht inne, als er sah, dass er sich
getäuscht hatte.
Es war nicht wie erwartet Maria, die mit dem Rücken zur Tür am
Herd stand und lautstark mit Pfannen und Töpfen klapperte, sondern
ein schmales, dunkelhaariges Mädchen, dessen Schultern wie unter
einer unsichtbaren Last vornübergebeugt waren. Es war Elenja.
Das Mädchen drehte sich erschrocken zu ihm um. Andrej vermochte den Ausdruck auf ihrem Gesicht nicht zu deuten, als sie ihn erblickte. Sie war jedenfalls nicht erfreut, ihn zu sehen.
Er wusste nicht, wie er reagieren sollte. Er war diesem Bauernmädchen keinerlei Rechenschaft schuldig. Auch trug er keine Schuld an
dem, was ihrer Familie widerfahren war. Dennoch fühlte er sich unter ihrem Blick schuldig. Sie starrten einander stumm an. Schließlich
war es Elenja, die das immer unbehaglicher werdende Schweigen
brach. »Oh, Herr«, sagte sie. »Bitte verzeiht - ich habe Euch nicht
gleich erkannt.«
»Das macht nichts«, antwortete Andrej. »Ich habe Geräusche gehört, und…«
»Ich habe Euch doch nicht geweckt?«, fragte Elenja erschrocken.
»Nein«, beschwichtigte Andrej sie. »Und selbst wenn, wäre es nicht
schlimm. Ich stehe gern früh auf.« Er machte einen weiteren Schritt
in die Küche hinein, schloss die Tür hinter sich und sah sich um.
»Wo ist Ma…. die Gräfin?«
»Sie ist hinausgegangen, um mit ihrem Paladin zu sprechen.«
»Paladin?«
Elenja lächelte flüchtig. »Blanche. Gräfin Berthold nennt ihn
manchmal so. Ich weiß nicht genau, was das Wort bedeutet, aber es
gefällt mir.«
»Und Blanche?«, entfuhr es Andrej. »Gefällt er dir auch?«
Vielleicht waren diese Worte nicht besonders klug gewählt, denn
zwischen Elenjas schmalen Augenbrauen erschien eine Falte, und sie
blickte ihn mit einer Mischung aus Schrecken und Misstrauen an.
»Blanche?« Wieder ließ sie einige Atemzüge verstreichen, als hätte
sie noch niemals über diese Frage nachgedacht und müsste es nun
nachholen, bevor sie sie beantwortete. Schließlich aber nickte sie
zögernd. »Ich glaube schon. Aber ich habe nicht viel mit ihm zu
schaffen. Ich glaube, er mag keine Menschen.«
Wenigstens in diesem Punkt schienen sie einer Meinung zu sein.
Andrej verzichtete auf eine Antwort, aber das flüchtige Lächeln, das
seine Lippen umspielte, schien Elenja zu genügen.
Doch er war nicht hier, um über den Weißhaarigen zu sprechen.
»Hat Maria…. die Gräfin,… mit dir gesprochen?«, fragte er.
»Über meine Familie?« Elenjas Blick umwölkte sich, doch sie hatte
sich erstaunlich gut in der Gewalt. Sie nickte. »Ja. Ich weiß, was ihnen zugestoßen ist.« Andrej wollte etwas Aufmunterndes sagen, obwohl es ihm noch nie leicht gefallen war, Worte des Trostes zu finden. Doch das Mädchen kam ihm zuvor und fuhr in traurigem, aber
gefasstem Tonfall fort: »Sie hat mir auch gesagt, dass Ihr Euch Vorwürfe macht. Das müsst Ihr nicht. Ich weiß, dass es nicht Eure
Schuld ist.«
»Nicht meine Schuld? Was?«
»Die Männer, die meine Familie getötet haben… Ulric und seine
Söhne. Ich weiß, dass Ihr in ihrem Auftrag hier seid.« Ihre Stimme
begann nun doch leicht zu zittern, und ihre Lippen bebten. Sie blickte
Andrej nicht direkt in die Augen, und er bemerkte, dass sie nur mit
Mühe die Tränen zurückhalten konnte. »Ich wusste, dass es eines
Tages so kommen würde. Alle haben es gewusst.«
»Was?«, fragte Andrej. »Dass sie deine Familie umbringen?«
Elenja schüttelte den Kopf. »Es sind böse Menschen. Jedermann
hier fürchtet sie, und fast alle haben schon einmal unter ihnen leiden
müssen. Aber niemand hatte den Mut, etwas gegen sie zu sagen oder
zu unternehmen. Niemand außer meinem Vater.«
»Und nun hat er dafür mit seinem Leben bezahlt.«
»Ich… kann es nicht glauben«, flüsterte
Weitere Kostenlose Bücher