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Die Blutgraefin

Die Blutgraefin

Titel: Die Blutgraefin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wolfgang Hohlbein
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sie dich nicht sieht«, antwortete
Maria. »Jedenfalls im Moment nicht.«
Andrej zögerte. Marias Begründung leuchtete ihm ein. Dennoch
hatte er das unbestimmte Gefühl, dass sie einen gänzlich anderen
Grund dafür hatte, ihn fortzuschicken.
Er sah wieder zur Bodenklappe. Vielleicht wäre es doch besser,
wenn er dort hinunterginge, um nach dem Mädchen zu sehen. Es
ging ihm nicht um Elenja. Was das Mädchen betraf, stimmte er Maria zu. Sicher war es besser, wenn er ihr nicht unter die Augen trat.
Aber er wollte auch nicht, dass Maria dort hinunterging. Etwas
Grauenvolles lauerte dort unten auf sie.
»Wahrscheinlich hast du Recht«, sagte er zögernd. »Ich warte dann
oben auf dich.«
»Tu das«, sagte Maria. Sie machte einen weiteren Schritt, blieb
wieder stehen und sah ihn ungeduldig an.
Andrej verließ die Küche widerstrebend. Auf halbem Weg ins obere Stockwerk wurde er langsamer und blieb schließlich stehen. Wieso wollte Maria ihn um jeden Preis loswerden? Wollte sie nicht, dass
er mit Elenja sprach?
Andrej fand keine Antwort auf diese Frage. Ebenso wenig fand er
den Mut, sich wieder umzudrehen und zurückzugehen.
Stattdessen trat er ins Kaminzimmer ein und setzte sich an den großen Tisch, an dem er am Abend zusammen mit Maria gegessen hatte.
Seine Lage erschien ihm immer absonderlicher. Er hatte das Gefühl, sein Leben nicht mehr unter Kontrolle zu haben oder auch nur
zu verstehen, was mit ihm geschah. Seit er Fahlendorf verlassen hatte
und hierher gekommen war, begann die Wirklichkeit rings um ihn
herum zu zerbrechen. Er fühlte sich wie in einem Traum, aus dem es
kein Erwachen gab. Dabei konnte er nicht einmal sagen, ob es ein
Wunschtraum war oder ein Albtraum - oder auch beides zugleich.
Sein Blick tastete unstet über die staubige Tischplatte und blieb an
der unregelmäßigen Tropfenspur hängen, die Elenjas Ungeschick
darauf hinterlassen hatte.
Andrej blinzelte, und der Staub war verschwunden. Die Tischplatte
glänzte wieder so sorgsam poliert, wie er sie vorgefunden hatte, als
er vor dem Kamin erwacht war.
Das beunruhigte ihn. Für gewöhnlich war auf seine Sinne und sein
Erinnerungsvermögen Verlass. Aber seit sie in jene Gegend gekommen waren, begann ihn beides immer mehr im Stich zu lassen.
Andrej stand auf, ging zum Kamin und bückte sich zum zweiten
Mal nach dem Kleid aus rotem Brokat. Seine Farbe entsprach exakt
der von Marias Haar. Es schimmerte. Der Stoff war völlig unversehrt.
Andrej schloss fassungslos die Augen. Er konzentrierte sich ganz
auf das, was ihm seine anderen Sinnesorgane über das Kleid verrieten, aber es war dasselbe, was auch seine Augen behaupteten. Vor
sich hatte er nicht jenen zerschlissenen Fetzen, an den er sich zu erinnern glaubte. Das Kleid war neu und vollkommen unversehrt. Was
war bloß los mit ihm? Verlor er allmählich den Verstand?
Andrej richtete sich auf, ließ das Kleid fallen und ging mit entschlossenen Schritten zu der schmalen Tür auf der anderen Seite des
Raums.
Er fand genau das, was er befürchtet hatte. Das Zimmer war winzig
und fensterlos. Auch die Wanne war da, aber es befand sich kein
Blut darin. Statt des süßlichen Geruchs, der ihn vorhin fast um den
Verstand gebracht hatte, roch er nun etwas, was er im ersten Moment
für ein vornehmes, teures Parfüm hielt, bis ihm klar wurde, dass es
Marias Duft war, den sie in der Luft zurückgelassen hatte. Plötzlich
war ihm kalt. Entsetzlich kalt.
    Er konnte sich nicht erinnern, sich hingelegt zu haben. Er musste
wohl eingeschlafen sein, ohne es zu merken. Als er abrupt aus dem
Schlaf hochschreckte, fand er sich lang ausgestreckt auf einer Decke
aus rotem Brokat liegend vor dem Kamin wieder, in dem ein neues
Feuer entfacht worden war. Dennoch war es kalt im Zimmer.
    Andrej wünschte sich nichts sehnlicher, als die Decke aus kostbarem rotem Stoff enger um sich zu ziehen und sich näher ans Feuer zu
rollen, um sich noch ein paar kostbare Minuten Schlaf zu erschleichen. Doch er wusste, dass er sich das nicht erlauben konnte.
    Stattdessen zwang er sich, die Augen vollends zu öffnen und so
lange in die hell lodernden Flammen zu blinzeln, bis sie zu tränen
begannen. Jemand hatte vor noch nicht allzu langer Zeit frisches
Holz auf die Glut gelegt, und es hatte Feuer gefangen. Wahrscheinlich war es die zunehmende Hitze des Feuers gewesen, die ihn geweckt hatte.

Mit schwerfälligen Bewegungen erhob sich Andrej. Ein Blick aus
dem Fenster überzeugte ihn davon, dass die Sonne noch

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