Die Blutgraefin
mit den Füßen auf, um den Schnee loszuwerden, der
an seinen Stiefeln klebte. Als er daran dachte, wie alt und brüchig die
Dielen sein mussten, auf denen er so unbekümmert herumtrampelte,
hielt er erschrocken inne. Für einen winzigen Moment blitzte ein
anderes Bild in ihm auf. Er sah das Zimmer völlig verändert vor sich.
Zwischen den morschen Fußbodenbrettern gab es fingerbreite Ritzen, durch die Dunkelheit aus dem darunter liegenden Kellergewölbe
wie klebriger, schwarzer Teer sickerte. Er glaubte einen monströsen
Schatten durch diese Dunkelheit huschen zu sehen. Ein mächtiger,
aufgedunsener Leib, der sich lautlos und schnell auf langen, staksenden Beinen bewegte und…
Andrej schüttelte sich, und die schreckliche Vision verblasste. Es
war nur ein Trugbild gewesen. In Wirklichkeit war nichts Ungewöhnliches zu sehen. Das Zimmer war alt, aber so gepflegt, wie es
die Baulichkeiten zuließen. Der Boden war massiv und völlig intakt.
Was stimmte bloß nicht mit ihm?
Andrej konzentrierte sich wieder auf die Laute, die er vernommen
hatte. Nun erkannte er Marias Stimme, außerdem hörte er ein
Schluchzen. Er ging zu der Tür, hinter der die Stimmen zu hören
waren, hob die Hand, um zu klopfen, entschied sich anders und trat
ohne Vorwarnung ein.
Er trat in eine kleine, aber vollständig eingerichtete Küche, die von
einem Dutzend brennender Kerzen und einem prasselnden Kaminfeuer nicht nur fast taghell erleuchtet, sondern auch in behagliche
Wärme getaucht wurde. Er hatte geglaubt, die Stimmen von zwei
Personen vernommen zu haben, aber Maria war allein im Zimmer.
Sie saß mit dem Rücken zur Tür vor dem Kamin, hatte die Knie an
den Leib gezogen und die Arme um die Beine geschlungen. Sie trug
ein dünnes Nachthemd. Den Kopf hatte sie auf die Seite gelegt, und
ihr Haar floss in schimmernden Wellen über ihre Schultern. Der Anblick war fast mehr, als er ertragen konnte.
»Kannst du nicht schlafen?«, fragte Maria, ohne sich zu ihm umzudrehen.
Andrej war verwirrt. Er war nahezu lautlos eingetreten, und Maria
blickte nicht in seine Richtung. Er hatte vergessen, dass sie inzwischen über die gleichen, scharfen Sinne verfügen musste wie er.
Wahrscheinlich hatte sie ihn schon gespürt, als er das Haus betreten
hatte.
»Ich dachte, ich hätte Elenja gehört«, sagte er, während er die Tür
hinter sich schloss.
»Sie war hier«, bestätigte Maria und deutete auf eine offen stehende
Klappe im Boden. »Sie ist hinunter in den Keller gegangen, um Wein
zu holen.«
Andrej trat einen Schritt näher und warf einen Blick auf den Tisch,
auf dem noch zwei randvolle Weinkrüge standen.
»Sie wollte allein sein, Dummkopf.«
Das wiederum konnte Andrej verstehen. Dennoch fragte er: »Hältst
du das für klug?« Seine Nackenhaare sträubten sich schon bei der
Vorstellung, in dieses finstere Loch hinabsteigen zu müssen.
»Nein«, antwortete Maria. »Aber sie wollte allein sein, und ich habe das zu respektieren.«
Andrej ging zu der Klappe. Ihm war nicht bewusst, dass er sich so
behutsam vorbeugte, als blicke er geradewegs in den Schlund eines
Vulkans, der möglicherweise im nächsten Moment ausbrechen würde. Doch das Einzige, was er sah, waren die ausgetretenen Stufen
einer gemauerten Treppe, an deren unteren Ende ein blassroter Lichtschein flackerte.
»Was ist dort unten?«, fragte er unbehaglich.
»Das solltest du die fragen, die dieses sonderbare Anwesen gebaut
haben«, antwortete Maria. »Es ist das reinste Labyrinth. Aber keine
Sorge, der Vorratskeller liegt nur ein paar Schritte entfernt. Sie wird
sich nicht verirren. Sie hat Angst vor diesen Gängen.«
Wer hätte das nicht?, dachte Andrej bei sich. Laut fragte er: »Was
hast du ihr erzählt?«
»Dass ihre Familie tot ist«, antwortete sie. »Sonst nichts. Sie musste es irgendwann erfahren.«
Andrej nickte. »Und wie hat sie es aufgenommen?«
»Wie es ein Mensch aufnimmt, wenn er erfährt, dass seine gesamte
Familie und fast alle, die er kannte, ausgelöscht wurden.« Sie zuckte
mit den Schultern. »Es hat sie schwer getroffen. Trotzdem war sie
tapferer, als ich erwartet hatte.«
Sie drehte den Kopf und sah einen Moment lang stumm in Richtung der offen stehenden Klappe. »Aber vielleicht hast du Recht, und
ich sollte sie nicht zu lange allein lassen.«
Sie stand auf, blieb jedoch nach einem Schritt wieder stehen, als
wäre ihr noch etwas eingefallen. »Vielleicht wartest du besser oben
auf mich.«
»Warum?«
»Weil ich es für klüger halte, wenn
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