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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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ihr Gesicht, den Klang ihrer Stimme, denn sie würde wissen, wie die Mädchen zu trösten waren, er wusste es nicht. Aber er wagte es nicht. Seine Trauer regte sich, sank in die Leere in seinem Inneren, drohte zu erwachen, und er fürchtete sich. Dieses Blutbad war ihm zuzuschreiben, mehr als allen Männern, die er umgebracht hatte. Schlimmer noch, auch der Mord an Carla und ihrem Kind fiel ihm zur Last.
    Es drängte ihn, den Mädchen alles zu sagen, bei ihnen die Beichte abzulegen, aber er unterdrückte diesen Wunsch. Damit würde er nur seine Schwäche offenbaren. Es würde ihr Vertrauen zu ihm untergraben. Das brauchten sie aber, denn es war alles, was sie noch hatten. Er zwang sich zu sprechen, irgendetwas zu sagen.
    »In der Wüste …«
    Er spürte, dass die Mädchen die Köpfe hoben und ihn anschauten. Er setzte erneut an.
    »In der Wüste südwestlich von den Bergen des Atlas liegt eine verlassene Gegend, die die dortigen Stämme Mur ’n Akush oder das Land Gottes nennen. Ich reiste dort zusammen mit einer Schar von Menschen, die immer unterwegs sind, unterwegs geboren und gestillt werden, unterwegs sterben und begraben werden, unterwegs leben und lieben und Lieder schreiben, die schon seit unzähligen Generationen unterwegs sind und dies auch weitere unzählige Generationen so machen werden. Sie zeichnen unerschöpfliche Variationen der gleichen erstaunlichen Reise auf, entlang der immer unveränderten uralten, doch unsichtbaren Wege, und kaum haben sie einen riesigen Bogen über die Oberfläche der Erde vollendet, da kehren sie schon um und beginnen einen neuen.«
    Er zeichnete mit seinen schmutzigen Händen zur Erläuterung eine Acht in die Luft.
    »In ihrer Sprache nennen sie sich › das freie und edle Volk ‹.«
    Die Schwestern wischten sich die Tränen von den Wangen.
    »In gewisser Weise ist diese Schar, dieser Clan schon immer unterwegs und wird es immer sein, immer auf dem gleichen Weg, dessen Anfang jedem Gedächtnis entfallen ist und dessen Ziel niemals erreicht wird. Jeden Abend errichten sie ein neues Lager unter einer neuen Konstellation von Sternen, und jeden Morgen brechen sie in eine neue Richtung auf, denn obwohl die Wege, denen sie folgen, uralt sein mögen, sind die Wüsten niemals gleich, sondern ewig veränderlich, und kein Fuß wird je auf den gleichen Weg gesetzt. So sind einerseits diese Reisenden immer zu Hause, denn sie verlassen niemals den Ort, an dem sie geboren sind. Doch andererseits kommen sie stets an einem Ort an, an dem noch nie jemand gewesen ist.«
    Die Schwestern dachten über seine Worte nach, waren einen Augenblick beide in sich verloren.
    »Waren sie gut zu dir, diese freien und edlen Menschen?«, fragte Flore.
    »Ohne sie wäre ich gestorben.«
    »Und hast du im Land Gottes auch Gott gefunden?«, fragte sie.
    »Ich finde Gott immer in der Wildnis. Wie alle wahrhaften Männer. Und wahrhaften Mädchen.«
    »Ich würde gern in die Wildnis gehen«, sagte Flore.
    »Wir sind in der Wildnis«, erwiderte Pascale. »Und Gott ist nicht hier. Nur der Teufel.«
    Tannhäuser sagte: »Dann tanzen wir zum Lied des Teufels.«
    »Ich tanze mit dir, wenn du mich lässt.«
    Tannhäuser kratzte sich in der Achselhöhle.
    »Warum hast du uns von der Wüste erzählt?«, wollte Flore wissen.
    Er spürte ihre Augen auf sich ruhen. Er antwortete nicht, weil er es nicht wusste.
    Flore sagte: »Ist es, weil du glaubst, dass wir wie die Menschen aus dem Stamm immer unterwegs bleiben sollten?«
    »Wir müssen einen sicheren Ort finden.«
    »Ist es hier nicht sicher?«, erwiderte Pascale. »Clementine gefällt es.«
    »Früher oder später hämmert die Miliz oder die Polizei an dieses Tor.« Er deutete mit dem Kopf auf die Straße. »Wenn es von innen verbarrikadiert ist, werden sie wissen wollen, wer hier ist. Wenn sie keine Antwort bekommen, dann treten sie die Tür ein, um es herauszufinden.«
    »Sie werden auf dich hören«, meinte Pascale.
    »Ich kann nicht hier bleiben. Mein Sohn ist am anderen Flussufer, in der Ville. Er ist schwer verwundet, warum und von wem, weiß ich nicht.«
    »Dann gehen wir zu ihm«, sagte Flore.
    »Die weißen Armbinden werden nur die überzeugen, die sich überzeugen lassen möchten. Katholische Mädchen sind heute nicht auf der Straße. Der einzige Grund, warum ihr unterwegs seid, ist, dass ihr nicht seid, wer ihr zu sein behauptet.«
    »Gestern waren wir Mädchen, die Wasser getragen haben«, sagte Pascale. »Warum sind wir heute so wichtig?«
    »Weil wir

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