Die Blutnacht: Roman (German Edition)
seither gute Freunde geworden sind, ihr und ich. Darum.«
»Ich meine, warum sind wir für die Miliz wichtig?«
»Das seid ihr nicht.«
»Warum wollen sie uns dann umbringen?«
»Sie haben einen großen Plan für die Säuberung der Welt, und dafür müsst ihr sterben.«
»Aber sie wissen nicht einmal, dass es uns gibt.«
»Solche Rätsel haben schon größere Philosophen als uns ratlos gemacht. Unsere Aufgabe ist zu überleben und, falls wir jemals wieder das Bedürfnis dazu verspüren, neu anzufangen.«
»Du hast gesagt ›einen sicheren Ort‹. Das bedeutet einen Ort, wo du uns zurücklassen kannst, nicht?«, meinte Pascale. »Obwohl du gesagt hast, dass wir Freunde sind.«
Tannhäuser stand auf. Er ging zum Wasserfass und tauchte einen Eimer hinein, beugte sich dann vor und schüttete sich das lauwarme Wasser über den Kopf. Er schrubbte sich das Blut aus dem Haar. Er rieb sich das Gesicht ab. Er spülte noch einmal nach. Er richtete sich auf.
»Stimmt es, dass du uns zurücklassen willst?«, fragte Flore.
»In der Stadt regieren nicht mehr der König oder seine Diener,auch nicht die Kirche oder der Staat, auch kein kirchliches oder weltliches Gesetz, nicht einmal mehr die Miliz, die Polizei oder irgendeine der anderen Banden, die ihre Messer wetzen. Hier regiert der Wahnsinn. Blutrausch in jedem Sinne: im Blut entstanden, im Blut verspürt, aus Freude am Blutvergießen.« Er schaute zu Pascale. »Sind du und ich nicht auch von diesem Wahn angesteckt worden?«
Pascale zuckte nicht mit der Wimper. »Umso mehr Grund, uns nicht zu verlassen.«
Tannhäuser schnaufte. Mit Jungen kam er so viel leichter zurecht.
»Selbst wenn jemand diesen Wahnsinn beenden wollte, was ich bezweifle, so fehlen doch die Mittel dazu. Die Mörder hören erst auf, wenn das Fieber sich ausgetobt hat oder ihnen die Opfer ausgehen. In jeder Stunde stecken sich mehr Menschen an und folgen dem Wahn. Viele erkranken nicht daran, aber sie sagen wenig und tun noch weniger. Und was sie sagen, flüstern sie hinter verschlossenen Türen. Sie spielen in diesem Stück die Rolle, die man von ihnen erwartet. Aber die wenigen Wahnsinnigen reichen, um den Durst zu stillen, den das Fieber hervorruft. Unser Problem ist, dass das in einer so großen Stadt einige Tage dauern kann.«
»Wir sind bei dir«, sagte Flore. »Wir wollen bei dir bleiben.«
»Wir lieben dich«, sagte Pascale. »Liebst du uns nicht?«
Ihre Verzweiflung entsetzte ihn. Er wandte sich ab.
Es dauerte eine Weile, bis er sich besann.
Er drehte sich wieder zu ihnen hin, streckte die Arme aus und rief sie zu sich. Sie rannten auf ihn zu und schlangen ihm die Arme um die Taille. Er legte ihnen die Hände auf die Schultern, und sie drückten ihre Gesichter an ihn und weinten hemmungslos. Er tätschelte ihnen den Rücken. Sie weinten lauter. Er strich ihnen über den Rücken.
»Ich habe der Liebe nicht immer ihren Preis gezollt«, sagte er. Er spürte, dass es nicht der beste Anfang war. »Aber eure Liebe ist kostbarer als Rubine. Was immer geschieht, ich liebe euch auch.«
Er spürte, wie etwas Kraft in sie zurückflutete. Er wartete, und sie atmeten ruhiger.
»Wir haben einen Ort gefunden, an dem wir unsere Tränen vergießen können. Nun wollen wir über sie lächeln und sie in unserenHerzen bewahren. Ich muss machen, was für euch am besten ist, wie ihr es für mich machen würdet. Wenn ich in Paris überhaupt Verbündete habe, dann sind sie am anderen Ufer des Flusses, und das ist an einem Tag wie heute weit weg. Die Brücken sind von Militanten besetzt, und wie alle Raubtiere wittern sie ihre Beute von fern, und ihr seid diese Beute. Aber das Tor von Saint-Jacques ist nicht weit, und beinahe überall außerhalb der Mauer wird es sicherer sein als drinnen. Ich habe einen Steinwurf entfernt im Westen eine Abtei gesehen, nicht wahr?«
»Saint-Germain-des-Prés«, sagte Pascale. »Das sind Benediktiner.«
»Ich kenne den Orden. Sie werden ehrlich mit mir reden. Wenn man euch fragt, dann habe ich euch zufällig hier beim Stall gefunden. Ihr seid vor Dieben geflohen, um eure Unschuld zu retten. Erfindet irgendeine Vergangenheit. Erfindet Namen. Das Gemetzel, das wir hinterlassen, wird untersucht werden, und zwar bald. Die Miliz, das sind keine gewöhnlichen Soldaten, die rechnen nicht damit, getötet zu werden. Sonst wären es verdammt viel weniger. Zwei oder drei tote Freiwillige würden nicht viel Aufsehen erregen, aber sehr wohl die neunzehn, die im Haus eures Vaters
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