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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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atmeten tief durch und dachten, es wäre alles vorbei. Ratten huschten zwischen dem Unrat umher, als seien sie von dem plötzlichen Überfluss verstört. Ein paar Hunde jagten keuchend hinter ihnen her. Chaos herrschte in einer Stadt, die beinahe verlassen schien. Wer nicht zum Sterben verdammt war, blieb zu Hause. Die Verstümmelten, die Wahnsinnigen und die Blinden waren geflohen. Die Huren hatten sich in ihre Betten zurückgezogen. Und sobald die Schlächter auf der Suche nach neuer Beute weitergezogen waren, blieben die Straßen den Leichen der eben Ermordeten überlassen.
    Die Écurie d’Engel war offen. Tannhäuser nahm Pascale das Gewehr ab und half den Mädchen im äußeren Hof vom Pferd. Er schloss und verriegelte das Tor zur Straße, öffnete aber die Klappe in der oberen Hälfte des Tors. Er deutete auf ein Wasserfass.
    »Füllt einen Eimer für Clementine«, sagte er.
    Er ging in das Gebäude, wo er Engel an einem Dachsparren erhängt fand. Der Stallbesitzer war nackt, sein Gesicht war in den Schatten abgewandt. Die geschwärzten Finger seiner Linken waren zwischen dem Seil und seinem Hals eingeklemmt. Füße und Unterschenkel waren aufgedunsen und dunkelrot. Tannhäuser schätzte, dass er mindestens seit gestern Abend tot war. Es war still im Stall, und ein kurzer Rundgang zeigte, dass alle Pferde fort waren. Es gab unzählige Erklärungen für den grausigen Anblick, doch das scherte Tannhäuser nicht. Dass Grégoire und Juste nicht da waren, kümmerte ihn weit mehr, und dafür konnte es viele, zumeist schreckliche Gründe geben.
    Er bereitete einen Eimer mit Kleie, Gerste und Bohnen zu undtrug ihn auf den Hof, um Clementine zu füttern. Pascale und Flore schauten ihr beim Fressen zu. Er ging wieder in den Stall und breitete eine Wagenplane unter Engel aus. Dann schnitt er das Tau durch, und die Leiche fiel steif herunter und sackte zusammen. Er wickelte sie in die Plane, zerrte sie nach draußen und rollte sie hinter einem Müllhaufen, der ein paar Schritte die Straße hinunter lag, wieder aus der Plane. Als er zurückkehrte, fragten die Mädchen nicht, was in der Rolle gewesen war. Trotz der Kleie, die Tannhäuser beigemischt hatte, um sie ein wenig zu bremsen, hatte die Stute die Gerste und die Bohnen schon verschlungen. Tannhäuser führte sie zu einem Salzstein, und während sie daran leckte, wiesen die Mädchen einander auf weitere belustigende Einzelheiten im Ausdruck und Verhalten der Stute hin.
    Tannhäuser war gerührt von ihrem Lächeln.
    Es war falsch gewesen, Pascale die Schauspieler töten zu lassen. Er fragte sich, warum ihm diese offensichtliche Tatsache vorhin nicht aufgefallen war. Seine Urteilsfähigkeit war wohl beeinträchtigt gewesen. Jetzt versuchte er, vernünftig zu denken, einen Plan zu machen, aber es gelang ihm einfach nicht. Ihm war nur klar, dass seit seiner Ankunft in Paris alles, was er getan hatte, falsch gewesen, dass jede Entscheidung ein Irrtum gewesen war. Er hatte das Gefühl, dass er am Rand der Welt stand und sein einziger Ausweg ein Abgrund war.
    Er setzte sich auf eine Bank und barg den Kopf in den Händen, wie ein Mann, der am Ende eines Weges angekommen ist, den er einmal für endlos gehalten hatte. Hätte er sich nicht hingesetzt, das furchtbare Gewicht seiner Verzweiflung hätte ihn in die Knie gezwungen. Er hatte auch früher schon getrauert. Um viele Menschen getrauert, die er liebte. Diese finstere Stimmung war mehr als Kummer oder Versagen oder Schuldgefühl. Er presste die Hände an den Schädel, als könnte er das Gift herausquetschen wie Saft aus einem Granatapfel. Er war ein Mann des Blutes in einer Stadt des Blutes in einer Welt des Blutes. Er zitterte am ganzen Leib. Er wartete darauf, dass der Anfall vergehen würde, wusste aber nicht, ob er je vergehen würde.
    Die Schwestern setzten sich neben ihm auf die Bank, Pascale links und Flore rechts. Er schaute sie nicht an. Sie waren zu Waisengeworden und aus ihrem eigenen Leben vertrieben worden. Sie hatten Dinge mit ansehen und anhören müssen, die nur den Verdammten vorbehalten sein sollten. Beide hatten sie die Hände im Schoß gefaltet und schwiegen. Sie waren brave Mädchen. Kurz darauf begannen sie beide gleichzeitig zu weinen. Sie weinten leise, als wollten sie ihn nicht stören, brauchten aber seine Nähe.
    Tannhäuser wollte allein sein. Er wollte sich nicht um sie kümmern müssen. Ihre leisen Tränen brannten ihm auf dem Gewissen. Er wollte Carlas Geist in sich heraufbeschwören, ihr Bild,

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