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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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dass sie sorgfältig Jean und Ebert von der Summe abgezogen hatte.
    »Halb so viele Gänse wären schwieriger gewesen. Ich war niemals auch nur nahe daran, verletzt zu werden. Und du erinnerst dich bestimmt, dass ich eigentlich über die Dächer fliehen und nicht kämpfen wollte.«
    »Aber du hattest keine Angst. Wie machst du das?«
    »Ich habe Angst. Die Angst lebt ganz natürlich in jedem Körper, wie der Hunger, nicht im Kopf, wie die meisten meinen. Ein Kämpfer, der das weiß, kann sie für sich einspannen, denn sie ist eine mächtige Kraft. Die Angst macht die Gedanken klarer; sie macht die Bewegungen schneller; sie verdoppelt einem die Kraft und den Mut. Wenn wir Angst und Mut als Gegensätze sehen, dann müssten wir schon Zauberer sein, um das eine in das andere zu verwandeln.Aber wenn sie im Grunde das Gleiche sind, genau wie Pech und Glück auf dem Rad des Schicksals, dann kann man lernen, wie man die Sache dreht.«
    »Verstehe.« Die Augen traten ihr beinahe aus dem Kopf. »Aber wie dreht man das Rad?«
    »Worin liegt das Vergnügen, wenn man, sagen wir mal, im Galopp reitet oder in tiefem Wasser taucht?«
    »Es macht einem Angst.«
    »Für viele ist es der reine Horror, und sie werden abgeworfen oder ertrinken.«
    Pascale dachte darüber nach.
    »Also findet man Freude am Horror.«
    »Ich muss mich berichtigen. Der Horror hat kein Gegenstück, außer vielleicht den Tod.«
    »Also ist der Horror nicht auf dem Rad des Lebens?«
    »Der Horror jagt allein und verschlingt dich. Wenn er dich gepackt hat, lässt er dich nicht mehr los, bis er fertig ist oder du erledigt bist. Aber wenn du schnell genug bist, kannst du dich auf seinen Rücken schwingen.«
    »Ich bin schnell.«
    »Lerne die Wölfin reiten, dann wirst du selbst ein Horror.«
    »Ich kann einen Wolf sehen, aber woher weiß ich, dass es eine Wölfin ist?«
    Tannhäuser lachte. Warum erzählte er dies einem Kind?
    »Lachst du mich aus?«
    »Du bist wissbegierig, Mädchen, das muss man dir lassen. Und meine Antwort: Ich stelle mir nur vor, dass es eine Wölfin ist. Wenn ich einer Macht, die keine Gestalt hat, eine geben kann, dann kann ich sie besser fassen.«
    »Ja.«
    Pascale streckte die Hand nach dem Dolch aus. Er gab ihn ihr.
    »Darf ich üben? Nur einmal?«
    »Steck die Klinge erst in die Scheide.«
    »Dann ist es nicht wie in der Wirklichkeit.«
    »Genau das ist meine Absicht.«
    »Ich tu dir nicht weh.«
    »Dann langsam, sehr langsam.«
    Tannhäuser biss die Zähne zusammen. Pascales Bewegungen waren schnell und präzise. Er musste all seine Nerven anstrengen, um nicht zusammenzuzucken, als die Klinge sich seiner Leiste näherte. Er nickte anerkennend. Da sah er plötzlich über ihre Schulter hinweg Justes Kopf hinter der Klappe im Hoftor.
    »Darf ich es noch einmal versuchen?«
    »Später.«
    »Tannhäuser? Seid Ihr da, Sire?«
    Als Tannhäuser das Tor öffnete, hörte er Juste etwas über Mäuse murmeln. Als er einen Schritt zurücktrat, führte Juste Tybauts Zwillingsmädchen herein. Sie hielten einander an den Händen. Juste folgte allein. Tannhäuser schaute sich auf der Straße um. Keine Spur von Grégoire. Er schloss die Tür.
    Juste stand da und starrte Flore an. Kein meisterlicher Maler hätte die Wirkung von Amors Pfeil besser darstellen können und hätte sich wohl gegen ein solches Gemälde entschieden. Denn dem Jungen stand das Maul offen, und er sah so einfältig aus wie ein junger Hammel. Tannhäuser schaute Flore nun mit anderen Augen an. Sie war hübsch, obwohl in solchen Fällen die Schönheit nur einen ungewissen Beitrag leistet. Flores zerzaustes und tränenfleckiges Aussehen verstärkte ihren Reiz vielleicht noch. So wie sie zu Juste zurückstarrte, vermutete Tannhäuser, dass sie vom gleichen Pfeil getroffen war.
    »Flore, Pascale, das ist mein guter Freund Juste. Er ist ein Pole von nobler Herkunft und hat unlängst leider das Erbe seiner Familiengüter in diesem herrlichen Land angetreten. Er ist tapfer, aber nicht übermütig, und er besteht nicht auf den Ehrbezeugungen und Formalitäten, die ihm zustehen. Das stimmt doch, Juste?«
    Juste riss sich aus seiner Trance und verneigte sich nacheinander vor den beiden Schwestern.
    »Die Ehre ist ganz meinerseits«, würgte er hervor.
    »Reist er immer mit Prostituierten?«, fragte Pascale.
    »Ich habe die beiden ganz allein beim Hôtel-Dieu gesehen«, platzte Juste zu seiner Verteidigung heraus. Er schaute zu Tannhäuser. »Ich wusste, Ihr hättet gewollt, dass ich

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