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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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herausschnitt. Eines Tages sah er einige Diebe, die gerade einen Pferdewagen voller Vorräte stehlen wollten. Er warnte den Besitzer, der herausfand, das sein eigener Stalljunge der Komplize der Räuber war. Und Engel hatte Grégoire in einem seltenen Anfall von Dankbarkeit dessen Arbeit gegeben.
    »Dir ist es also ganz gut gegangen«, sagte Tannhäuser, »bis ich kam.«
    »Ein neuer Stalljunge, das bedeutet mehr Arbeit für Engel. Der nimmt mich zurück.«
    »Das bezweifle ich.«
    Luzifer kam von der Straße hereingetrottet, japste wie ein Hund, der trotz seiner versengten Haut eine Hündin gefunden hatte, die sich bespringen ließ. Er beschnüffelte die Leichen und wählte zwei aus, auf die er pinkelte.
    »Wenn du ihn mit nach Hause nimmst, musst du ihn besser erziehen.«
    Ganz nüchtern, nicht um Mitleid zu erregen, sagte Grégoire: »Ich habe kein Zuhause.«
    »Ich meine mein Zuhause im Süden. Kommst du mit?«
    Grégoire starrte ihn an. Er zwinkerte, als sähe er ein Bild vor sich.
    »Ja, Herr, wenn wir je hinkommen.«
    »Ich habe nicht vor, in Paris zu sterben. Und es gefällt mir, einen Knappen zu haben.«
    »Einen Knappen?«
    »Das ist ein besserer Lakai, mit mehr Gehalt.«
    Diese Einzelheiten schienen die Aussichten für Grégoire realistischer zu machen. Sein Gesicht hellte sich auf. Als könnte er es gar nicht erwarten, endlich aufzubrechen, fragte er: »Habt Ihr Eure Frau schon gesehen?«
    »Meine nächste Pflicht, und eine, die ich nun schon lange genug vor mir hergeschoben habe.«
    »Ich bin traurig für Euch.«
    »Nimm die Tasche und diese Waffen mit in die Küche. Und iss was.«
    Grégoire griff in sein Hemd und zog ein zerknülltes Stück Stoff hervor, das von Schweiß und Wasser durchtränkt war. Er streckte es Tannhäuser hin. Erst als der sah, dass es mit einem triefnassen Band zusammengebunden war, begriff er, dass es das Taufkleid war.
    Tannhäuser bekreuzigte sich und ging durch das Kirchenschiff zum Sarg.
    Der Kopf der Leiche zeigte auf den Altar. Tannhäuser blieb wie angewurzelt stehen.
    Der Körper hatte die falsche Größe.
    Die falsche Form, Länge und Gestalt.
    Er stürzte vor. Der Leichnam war in ein weißes Tuch gehüllt, das auch über das Gesicht gebreitet war. Er zog es fort. Die Züge waren die einer Frau, wachsartig, grau und so undeutlich, wie sie nur der Tod machen konnte.
    Aber es waren nicht Carlas Züge.
    Tannhäuser ließ das Taufkleid auf den Boden fallen.
    Auf Schmerz war er vorbereitet gewesen, aber nicht auf völlige Verwirrung. Er war erleichtert, dass die Leiche nicht Carla war, aber diese Erleichterung war abstrakt, ein Gedanke, kein Gefühl. Er hatte um sie getrauert. Das Gewicht seiner Trauer hatte ihn beinahe zermalmt. Kein Gewicht, das er je getragen hatte, war so wirklich und so schwer gewesen. Nichts, kein Stahl, kein Stein, nicht einmal die Liebe war je so wirklich gewesen. Und er hatte die Bürde getragen. Seine Trauer war ein Teil von ihm geworden. Er war der Mann geworden, der sie trug. Sie hatte ihn nicht zerstört. Hatte er gar kein Recht aufdiese Trauer gehabt? War sie fort? Wie konnte etwas so Wirkliches verschwinden? Und doch war sie in einem Augenblick fort gewesen, und er fühlte sich leer. Und in diese Leere schlich sich die Furcht.
    Carlas Tod hatte diese Furcht verbannt.
    Er drehte dem Sarg, in dem nicht Carla lag, den Rücken zu.
    Wo war sie?
    Lebte sie noch?
    Die Furcht kehrte zurück.
    Wenn Carla noch lebte, musste er sie vielleicht noch einmal verlieren – und betrauern. Er wusste nicht, ob er das durchstehen würde. Wenn er das nicht konnte, wäre er es nicht mehr wert, am Leben zu sein.
    Wenn Carla nicht im Hôtel d’Aubray ermordet worden war, dann war es doch sicher, dass sie nicht entkommen war. Altans Leiche war Beweis genug dafür. Nur der Tod hatte ihn davon abbringen können, ihr zur Seite zu stehen. Dann konnten die anderen mit ihr machen, was sie wollten, und Tannhäuser hatte ja gesehen, wozu sie fähig waren. Der einzige Grund, sie lebendig mitzunehmen, war zum Vergnügen der Schurken. Dass sie schwanger war, hatte deren perverse Begierde vielleicht noch angefacht. Und sie hatten den ganzen Tag lang Zeit gehabt, sich auf sie zu stürzen; auf ihr ungeborenes Kind. Ob Carla noch lebte oder ob die Banditen ihrer überdrüssig geworden waren und sie umgebracht hatten, jedenfalls hatte Tannhäuser einen Tag verschwendet.
    All das wog schwer auf seinem Gewissen und bestärkte seine Ängste. Es war nicht die Trauer gewesen, die ihn

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