Die Blutnacht: Roman (German Edition)
davon abgehalten hatte, die Treppe hinaufzusteigen, auch nicht sein schwacher Magen. Es waren Schuldgefühle gewesen, denn er trug schwere Schuld: Er hatte als Ehemann versagt; er war selbstsüchtig und eitel gewesen und hatte den falschen Leuten treu gedient; er hatte sie mit dem Kind alleingelassen; er hatte seit seiner Ankunft in Paris unzählige falsche Entscheidungen getroffen; er war nicht rechtzeitig gekommen. Und es war Furcht gewesen, denn er hatte sich gefürchtet: vor der Vaterschaft und ihren Verpflichtungen; vor dem Verlust seiner Freiheit; vor einem weiteren toten Säugling. Deswegen hatte ihm der Mut gefehlt, die Treppe hinaufzusteigen, ihre Leiche zu sehen und seinem eigenen schlechten Gewissen gegenüberzustehen. Undwegen dieser feigen Weigerung hatte er sie wieder einmal im Stich gelassen, hatte sie Ungeheuern überlassen, während er sich im Blutvergießen und im Selbstmitleid suhlte.
Er hatte nie Schuldgefühle und Furcht gekannt.
Jetzt kannte er sie.
Er würde sie immer kennen.
Genug.
Genug Furcht und Schuld und Selbstekel.
All das und die Ewigkeit, das konnte bis morgen warten.
Er schaute zum Kruzifix über dem Altar. Er hatte immer geglaubt, eine dunkle Seele zu haben; doch auch die Dunkelheit hatte er wohl nicht gekannt. Er sprach kein Gebet. Er brauchte kein Licht. Die Nacht zog herein, und nur die Dunkelheit würde ihm durch all das helfen.
Er beschwor kalte Wut herauf.
Tannhäuser ging mit großen Schritten den Korridor entlang zu La Fosse, der dasaß und sich die Wunden hielt. Er umspannte den Schädel des Priesters mit den Händen, die Daumen unter die Wangenknochen gedrückt, zerrte ihn in die Höhe und stieß ihn an die Wand. La Fosse schrie vor Schmerzen auf und rollte mit den Augen.
»Wo ist meine Frau?«
»Ich weiß es nicht! Ich habe versucht, Euch zu sagen, dass sie nicht im Sarg ist …«
»Lebt sie?«
»Ich weiß es nicht!«
La Fosses Schmerzen waren nun so groß, dass er es wagte, Tannhäusers Handgelenke zu packen. Der stieß ihm das Knie in den Schritt. Außerdem erhöhte er den Druck seiner Daumen.
»Wo ist meine Frau?«
»Glaubt Ihr, ich verheimliche Euch das? Glaubt Ihr, ich fürchte irgendwas mehr als Euch? Ich fürchte Euch mehr als Gott. Ich bete zu Gott, ich wüsste, wo Ihr sie finden könnt. Christus am Kreuz, nicht mal die wissen das. Bitte tut mir nicht mehr weh. Bitte.«
Tannhäuser ließ los. La Fosse sackte in sich zusammen. Tannhäuser zog ihn wieder hoch.
»Was meinst du mit ›nicht mal die wissen das‹?«
»Christian hat so etwas gesagt, als er die Leiche sah. Er ist jähzornig. Er war sehr aufgebracht. Er behauptete, ich hätte die falsche Frau. Als hätte ich nicht gewusst, dass es Symonne ist!«
»Was hat er gesagt?«
»Bitte lasst mich erklären. Ich bekomme keine Luft.«
Tannhäuser nahm die Hand von La Fosses Brust.
»Ich habe Bedienstete angeheuert, um den Leichnam einer Frau aus dem Schlafzimmer zu holen, wie Ihr mich angewiesen hattet. Sie brachten Symonne d’Aubray. Sie schworen mir, es sei keine andere weibliche Leiche im Gebäude. Es sind zuverlässige Männer, einfache Männer. Ich habe das auch Christian und Le Tellier erklärt, und da hat Christian zu Le Tellier gesagt, lasst mich genau überlegen, ja, er hat gesagt: › Der Auftrag war klar. Was hat diese Bestie mit ihr gemacht ?‹«
»Wie hat Le Tellier reagiert?«
»Er hat Christian mit einem bösen Blick zum Schweigen gebracht. Danach hat Christian kein Wort mehr gesagt.«
»Aber sie haben beide erwartet, dass Carla tot im Hôtel d’Aubray liegen würde.«
La Fosse nickte. »Zweifellos.«
»War Le Tellier besorgt? Verwirrt?«
»Er war während der ganzen Besprechung so ruhig wie ein toter Karpfen.«
»Wurde noch etwas über den Überfall gesagt? Wer ihn durchgeführt hat? Namen?«
»Nein, keine Namen. Nichts. Ich habe zu Le Tellier gesagt, dass ich sicher wäre, Ihr würdet wiederkommen – wenn ich auch nicht wüsste, wann. Er wies mich an, mit meinen Vorbereitungen weiterzumachen, wie Ihr gesagt hattet, als wäre es die Leiche Eurer Frau. Den Rest wisst Ihr.«
»Es hing eine andere Frau im Fenster. Sie ist noch dort.«
»Symonnes Haushälterin. Ich glaube, sie hieß Denise.«
Tannhäuser ordnete seine Gedanken.
Christian hatte die Schurken angeheuert. Das allgemeine Massaker hatte den symbolischen Mord politisch bedeutungslos gemacht. Deswegen hatte Carla, wenn sie noch lebte, keinen Wert mehr und stellte keine unmittelbare Bedrohung für die
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