Die Blutnacht: Roman (German Edition)
dass sie geradewegs auf dem Weg in die Hölle waren. Aber Mattias tötete sie ja nicht um der Gerechtigkeit oder eines Glaubens willen oder um die Sperre zu verteidigen. Er tötete sie, weil sie da waren und weil er es konnte und weil es seine Berufung war.
Er hatte sie verletzt, indem er noch einmal umkehrte. Nun musste sie einfach Angst um ihn haben, und Angst hatte sie heute schon mehr als genug ausgestanden. Seine Gewaltorgie war nach ein, zwei Minuten vorüber, und der gesamte Bereich war innerhalb von fünf völlig menschenleer, aber es waren lange Minuten gewesen. Er streiftezwischen den Haufen der Getöteten herum, seine Haut feuchtschwarz im Mondlicht. Er enthauptete die Verwundeten, als beleidigte ihn ihr Weiterleben. Sie hatte keine Vorstellung, was er da aus dem Käfig in den Fluss kippte. Auch nicht, warum es ihm so wichtig war, diese dunkle Masse in die Seine zu werfen. Und als Estelle genau diese Fragen stellte, konnte ihr niemand eine Antwort geben.
Carla sah zu, wie Mattias sich wusch, und obwohl sie versuchte, die Welle der Liebe zu unterdrücken, die sie beinahe mehr schmerzte als die Wehen, überwältigte sie dieser Anblick, und Schluchzer schüttelten sie, Tränen rollten ihr über die Wangen und auf ihr Kind. Der Mann, den sie liebte, war mit dem Blutvergießen verheiratet. Kein Gefühl, dass sie empfinden würde, könnte diese Tatsache ändern. Diesen Treueschwur hatte er geleistet, lange ehe er begriffen hatte, was er da schwor. Als Männer, die denen am Ufer der Seine nicht unähnlich waren, das Leben, das er hätte führen können, ausgelöscht hatten. Vielleicht weinte Carla um diese verlorenen Möglichkeiten, obwohl er dann für immer von ihr fern geblieben wäre und von Orlandu und Amparo auch. Diese Freuden hätte sie um keinen Preis missen mögen. Nicht einmal, wenn Mattias dadurch Frieden für seine sturmgebeutelte Seele hätte finden können. Also hatte sie nicht das Recht, seine Wut zu schelten, denn ohne diese Wut wäre er nie der Ihre geworden und sie nicht die Seine, und wenn sie nicht alles lieben konnte, was er war, dann verdiente sie ihn überhaupt nicht.
Auch die Kinder weinten, außer Grégoire, der völlig benommen stöhnend auf seiner Pferdedecke schlief. Sie hatten mit außerordentlichem Mut unerträgliche Gefahren durchlebt und unerträgliche Verluste erlitten. Sie weinten nicht wegen ihrer eigenen Sorgen. Sie weinten, weil sie Mattias liebten und um seine Seele fürchteten.
Orlandu weinte nicht, aber er war auch kein Kind mehr. Er hatte sie geküsst und ihr das blaue Tuch zurückgegeben, und sie hatte ihm gedankt. Dann hatte er sich auf den mittleren Querbalken neben Pascale gesetzt und nichts mehr gesagt.
Auch Amparo weinte nicht. Sie war hellwach und schien durch das Leid ringsum nicht im Geringsten verstört. Sie hatte Carla das Gesicht zugewandt.
Carla lächelte. Das Lied und der Tanz des Lebens gingen weiter.
»Kommt Tannser zurück?«, fragte Estelle.
»Natürlich«, antwortete Pascale.
»Ja«, stimmte Carla zu. »Natürlich. Und dann braucht er uns, dass wir uns um ihn kümmern, also wollen wir unsere Tränen trocknen und ihm zeigen, dass er sich auf uns verlassen kann.«
»Ich hätte nicht gedacht, dass Tannser jemanden braucht, der sich um ihn kümmert«, sagte Estelle.
»O doch«, antwortete Carla. »Er braucht uns mehr als wir ihn.«
»Das würde er niemals zugeben«, sagte Pascale.
»Ich glaube, du wirst überrascht sein.«
Carla schaute zu, wie Mattias triefnass aus dem Fluss kam und wieder zum Kai hinaufstieg. Er blickte zu ihr hin, und obwohl sie sein Gesicht nicht sehen konnte, las sie aus seiner Haltung eine gewisse unaufrichtige Reue. Um ihretwillen.
Um seinetwillen stand sie auf und hob ihm Amparo entgegen.
Über den Fluss der Toten hinweg.
Unter den Sternen und dem Vollmond.
Die Last der Unaufrichtigkeit flog ihm von den Schultern.
Er trat herunter auf die Schiffsbarriere.
Carla nahm das Kind wieder herunter. Eine Nachwehe krampfte ihr den Bauch zusammen, und sie setzte sich hin und wartete darauf, dass sie vorüberginge. Die Wehe ließ ihr die letzten Tränen eintrocknen. Sie spürte, dass sie am Rand der völligen Erschöpfung war, die nur darauf wartete, sie völlig zu überwältigen. Sie sah die Schweizer Garde und Mattias, der ihnen entgegentrat, und ihre Furcht flackerte wieder auf. Zehn Schweizer Garden waren gefährlicher als drei Dutzend Pilger, und sie hätte es Mattias durchaus zugetraut, noch einmal umzukehren und zu
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