Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Wasserschlauch aus Ziegenleder und zwei Reiterpistolen im Halfter, aus denen Tannhäuser vorsichtshalber das Zündpulver geblasen hatte, damit sich der Junge nicht aus Versehen einen Fuß abschoss. Tannhäuser hielt sein Radschlossgewehr in der Armbeuge. Das Anderthalbhänder-Schwert trug er an der Seite. Als sie sich der Grande Rue Saint-Jacques näherten, tauchte Engel auf. Er war der Mann, den Tannhäuser verprügelt hatte.
Nase und Lippen waren geschwollen, und ein Auge war geschlossen. Er war in Begleitung zweier Sergents à verge , die mit Kurzbogen bewaffnet waren. Tannhäuser fragte sich, wie viel Geld Engel gezahlt hatte, um die beiden anzuheuern. Die Sergents musterten die große, gut bewaffnete Gestalt, die auf sie zuschritt, und kamen zu dem Schluss, dass die Summe jedenfalls nicht ausreichte.
»Gott sei Dank«, rief Tannhäuser. »Ihr habt ihn verhaftet.«
Die Büttel blieben stehen.
»Ich habe den Kerl erwischt, wie er mein Pferd gefickt hat.«
Engel blieb das Maul offen stehen. Blut triefte aus seinen frischen Zahnlücken.
»Der Wahrheit halber muss ich sagen, dass es zumindest eine Stute war, aber ich hoffe, dass die Strafe darum nicht weniger hart ausfällt.«
Engel holte Luft, um zu protestieren, aber Tannhäuser trat einen Schritt näher und rammte ihm den Kolben seines Gewehrs an die Stirn. Engel fiel auf einen Misthaufen, als wären seine Füße am Boden angenagelt. Tannhäuser lächelte den Bütteln zu, die zurückgewichen waren und nach ihren Schwertern griffen.
»Mein Knappe hier kann das Verbrechen bezeugen. Das kannst du doch, Grégoire?«
Grégoire brabbelte etwas Unverständliches.
»Brauchen die Herren Offiziere sonst noch etwas?«
»Das Tragen einer Feuerwaffe ist gesetzlich verboten«, sagte einer.
»Für die Ritter vom heiligen Johannes gelten eure Gesetze allerdings wohl nicht.«
Die Sergents warfen einander Blicke zu.
»Wie der letzte Dieb, den ich getroffen habe, feststellen musste, schreibt dieses Gewehr seine eigenen Gesetze«, fügte Tannhäuser hinzu.
Die beiden beschlossen, die Sache nicht weiter zu verfolgen. Wie um sich zu entschädigen und mit dem Vergnügen eines Menschen, der Ungerechtigkeit im Leben durchaus genießen konnte, grinste einer der Büttel den glücklosen Stallbesitzer an.
»Keine Angst, mein Herr. Wir sorgen dafür, dass dieser Sodomit seine gerechte Strafe erhält.«
Tannhäuser und Grégoire überließen den Stallbesitzer den Sergents , die seine Taschen durchsuchten, und gingen zur Grande Rue Saint-Jacques. Irgendwo in diesem riesigen Misthaufen von Stadt war Carla und in ihrem Bauch ihr gemeinsames Kind. Tannhäuser hatte keine Ahnung, wo sie sich genau aufhielt. Seine Hoffnung, sie zu finden, stand und fiel mit der Annahme, dass ihr Sohn Orlandu mehr wissen würde.
»Grégoire, ich möchte das Collège d’Harcourt an der Rue de la Harpe finden.«
Grégoire stieß einen seiner Krächzer aus und bahnte sich einen Weg durch die Menge.
Tannhäuser folgte ihm. Sie machten einen weiten Bogen um zwei zusammengekettete Schwachsinnige, die Gülle auf einen Wagen schaufelten. In einer Gasse sahen sie einen Priester und eine Hure in voller Brunst bei der Sache, die Hemden um die Taille hochgeschoben. Von der Grande Rue Saint-Jacques bogen sie nach Westen ab und gerieten in ein vor Menschen nur so wimmelndes Labyrinth, wo die Gebäude so hoch aufragten, dass ihre Dächer einander über die schmalen Gassen hinweg zu berühren schienen. Endlich kamen sie in ein Viertel mit vielen Studenten und der entsprechenden Menge Huren. Tannhäuser schnappte Wörter verschiedener Sprachen auf. Sollte es hier unter dieser Elite welche geben, die tatsächlich mit metaphysischen Fragen rangen, dann hörte er die jedenfalls nicht. Allerdings sah er zwei Studenten im Dreck ringen, zur Belustigung ihrer betrunkenen Kumpane, die Englisch sprachen.
Die strenge Atmosphäre des Collège d’Harcourt ließ in Tannhäuser die Hoffnung wieder aufkeimen, doch einen Hort der akademischen Wissenschaften gefunden zu haben. Die Eingangshalle lag verlassen da. Nur ein uralter Portier hockte in einer Nische auf einem hohen Stuhl hinter einer Theke. Der Alte sah ganz so aus, als hätte er diesen Hocker seit Jahren nicht verlassen. Er trug eine kurze Rosshaarperücke, die mindestens eine Größe zu klein war und seinen von Krankheit gezeichneten Schädel nur unzureichend bedeckte. Graue Läuse huschten am Rand der Perücke über seinen Ohren herum. Seine Augen wölbten sich über
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