Die Blutnacht: Roman (German Edition)
den Wangenknochen aus dem Schädel und wanderten unter den geschlossenen, mit blauen Venen durchzogenen Lidern rasch hin und her. Tannhäuser klopfte laut auf die Theke.
Der Portier zog echsengleich die Lider in die Höhe, ohne sich zu regen. Die Augen waren blitzblau, als würde der uralte Körper vom Geist eines völlig anderen Wesens bewohnt. Der Alte musterte Tannhäusers Kleidung, das weiße Malteserkreuz auf dessen Brust, das in der Armbeuge gehaltene Gewehr. Er nahm Grégoire wahr, der mit Gepäck behangen war und vor Schweiß triefte. Dann kehrtendie Augen zu Tannhäuser zurück. Sie sahen alles: einen Ausländer, einen Mörder aus ärmlichsten Verhältnissen, dem das Glück hold gewesen war. Der Portier verachtete ihn. Der Portier sprach kein Wort.
»Ich suche Orlandu Ludovici.«
»Das Semester ist längst vorbei, Sire.« Diese Aussage schien den Mann sehr zufrieden zu stimmen. »Nur wenige Studenten bleiben in dieser Jahreszeit hier in ihrer Unterkunft.«
»Aber Ihr kennt Orlandu Ludovici? Und gehört er zu diesen Wenigen?«
»Der Malteser wohnt hier schon seit, oh, seit Michaelis des letzten Jahres nicht mehr.«
»Wisst Ihr, warum er ausgezogen ist?«
»Ich bin in die Gedanken des jungen Herrn Ludovici nicht eingeweiht, noch viel weniger in seine Beweggründe.«
»Wisst Ihr, wo ich ihn finden kann oder wo er jetzt wohnt?«
»Leider nicht, Sire.« Auch sein Unwissen schien ihm Freude zu bereiten.
Man hatte Tannhäuser gewarnt, dass jegliche Begegnung mit Pariser Offiziellen, ganz gleich, wie niedrig und gering sie auch sein mochten, beträchtliche Beharrlichkeit erfordern würde.
»Aber er ist immer noch Mitglied des Collège?«
»Soweit ich weiß, Sire.«
»Wann habt Ihr ihn zuletzt gesehen?«
»Daran kann ich mich nicht erinnern, Sire.«
»Vor einer Woche? Einem Monat?«
»Ich kann mich nicht erinnern.«
»Ihr erinnert Euch daran, dass er vor einem Jahr ausgezogen ist, aber nicht, wann Ihr ihn zuletzt gesehen habt?«
»In meinem Alter, Sire, kann einem das Gedächtnis seltsame Streiche spielen.«
Tannhäuser hatte zuletzt vor vier Monaten an Orlandu geschrieben, vor der Reise, die ihn in Velez de la Gomera und noch ferneren Gegenden aufgehalten hatte. Er deutete auf die Reihe von mit Buchstaben markierten Fächern an der hinteren Wand der Portiersloge. Im Fach mit »L« sah er eine Reihe von Papieren liegen. Er lehnte sein Gewehr an die Theke.
»Gibt es Nachrichten oder Briefe für ihn?«
»Nein, Sire.«
»Ich wäre Euch dankbar, wenn Ihr nachsehen könntet.«
»Ich bin mir jetzt schon sicher.«
Tannhäuser hob die mit einem Scharnier versehene Klappe und schritt zu den Postfächern.
»Niemand darf hinter die Theke, Sire.«
Tannhäuser blätterte die Papiere aus Fach »L« durch. Es war nichts für Orlandu dabei. Das Fach mit »O« war leer. Er drehte sich um.
In den Augen des alten Mannes lag ein Lächeln. Seine Lippen bewegten sich nicht, vermittelten aber trotzdem abgrundtiefe Verachtung. Tannhäuser hatte das ungute Gefühl, dass der Portier ihn erwartet hatte, dass jemand seinen Besuch angekündigt hatte, dass der Mann wusste, wer er war.
»Ihr wisst, wer ich bin.«
»Ein Herr von sehr großer Bedeutung, da bin ich mir sicher, Sire.«
»Orlandu muss doch Freunde haben, Tutoren.«
»Zweifellos, Sire. Aber es gehört nicht zu meinen Aufgaben, Experte in derlei Fragen zu sein.«
»Gibt es sonst jemanden, den ich fragen könnte?«
»An einem Samstag, Sire?«
»Dann ist Orlandu, soweit das Collège es sieht, verschwunden?«
»In Paris gibt es zehntausend Studenten, Sire, aus ganz Europa. Wer weiß, was solche jungen Männer alles anstellen? Besonders in Zeiten wie den unseren.«
»Orlandu ist mein Stiefsohn. Er ist mir sehr ans Herz gewachsen. Er ist vielleicht bei seiner Mutter, Dame Carla, Comtesse de la Penautier. Sie war Gast der Königin bei der königlichen Hochzeit. Wisst Ihr, wo ich sie finden könnte?«
»Wenn Ihr nicht wisst, wo Eure Frau ist, Sire, wie sollte ich es da wissen?«
»Falls Ihr Informationen haben solltet, die mir helfen, Orlandu oder Dame Carla zu finden, kann ich meine Dankbarkeit mit Gold unterstreichen, vielleicht eine Stiftung für das Collège machen.«
Der Portier zog eine haarlose Braue in die Höhe, als ihm der Sieg in die Hände gelegt wurde.
»Bestechung? Sie tun mir schweres Unrecht, Sire.«
Tannhäuser hatte diese Bestechung mit sehr viel Feingefühl angeboten. Die Beleidigung hatte in der Antwort des Portiers gelegen.
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