Die Blutnacht: Roman (German Edition)
nichts zu tun haben.
Er wollte nur weit weg sein.
Jenseits des Flusses sah er den hoch aufragenden Koloss von Notre-Dame de Paris.
Er ritt auf den hohen Turm von Saint-Jacques zu. Bei der Rue Saint-Martin wandte er sich nach Süden über den Pont Notre-Dame. Dort sahen ihn die Wachsoldaten näher kommen und senkten wortlos die Kette.
Auf beiden Seiten der Straße stand auf der Brücke eine Reihe schmaler, mit Backsteinen verblendeter Häuser, jedes einen Raum breit mit einem Laden im Erdgeschoss und zwei Stockwerken unter einem Giebeldach. In den Geschäften wurden Luxuswaren gefertigt und angeboten. Die Schilder hingen an langen Stangen über die Straße: Hutmacher, Perückenmacher, Kunsthändler, Federverkäufer, Importeure italienischer Stoffe und Damenkleidung. Obwohl es schon mitten am Morgen und dies sonst eine der geschäftigsten Straßen von Paris war, lag sie verlassen da. Tannhäuser war sicher, dass sich in allen Häusern Menschen aufhielten. Die Bürgermiliz ließ vielleicht Frauen und Kinder allein, aber kein Geschäftsmann hinterließ seine Waren unbewacht. Und doch war keine Menschenseele zu sehen.
Nun war Tannhäuser wieder auf der Île de la Cité.
Schmale Straßen. Gassen, durch die sich sogar Juste nur mit Mühe schlängeln könnte. Häuser, die aussahen, als müssten sie jeden Augenblick einstürzen, manche nur durch erfindungsreiche Stützen aufrecht gehalten. Ab und zu war zwischen all diesen Verfall ein herrliches neues Stadthaus gequetscht. Es gab Unmengen von Gasthäusern. Hier herrschte mehr Geschäftigkeit, aber die Spannung war genauso spürbar. Tannhäuser roch Essen aus den Schenken und Gasthäusern. Manche hatten einen bewaffneten Mann an die Tür gestellt, manche Wächter trugen die Uniformjacke der Sergentsà verge . Keiner schien sich seiner Sache sicher zu sein. Sie nickten Tannhäuser zu, wenn er vorüberging, als hofften sie, er wäre gekommen, um ihnen zu erklären, was geschah und was sie tun sollten.
Die Straße verlief weiter in südlicher Richtung, wohl zum linken Flussufer. Er konnte am Ende der Brücke nur eine massige Festung ausmachen, die Grégoire als Petit Châtelet benannte. An einer Straßenkreuzung schlug Tannhäuser den Weg zur Kathedrale ein.
Notre-Dame de Paris ragte so plötzlich und massiv auf wie eine Festung. Eine Stein gewordene Drohung. Er hätte sie nicht als die schönste Kathedrale bezeichnet, denn dazu hatte er vielleicht zu lange in Italien gelebt. Doch jetzt, mit der Sonne hinter der Kirche flößte sie ihm Hochachtung ein. Aber zum Beten war er nicht hergekommen.
Der enge Vorplatz der Kathedrale war die geographische Mitte Frankreichs, das versicherte ihm Juste mit dem Stolz des Besuchers, der einige wichtige Fakten zusammengetragen hat. Im Gegensatz zu den menschenleeren, stillen Straßen in anderen Gegenden ging es hier schrill und laut zu, und der Platz wimmelte nur so von Huren, Bettlern, Straßenhändlern, Bänkelsängern, Jongleuren und Narren, von denen mindestens die Hälfte Taschendiebe oder Lockvögel waren. Es waren dort auch Gruppen der Bürgermiliz zu sehen. Als sie Tannhäuser und sein blutbeflecktes Hemd sahen, nickten sie ihm zu.
Der Vorplatz war im Süden zum Fluss hin vom Hôtel-Dieu, dem Krankenhaus, begrenzt. Einige Schwestern bewegten sich zwischen den vielen Versehrten, Armen und von Krankheit Entstellten umher, die in der Hoffnung auf Einlass oder Verpflegung vor dem Tor herumlungerten. Mit geübtem Auge unterschieden sie die wirklich Bedürftigen von den Simulanten, obwohl selbst die vom Glück am meisten Begünstigten in diesem Häuflein wirklich Jammergestalten waren. Einer dieser Bittsteller bemerkte Tannhäuser oder das Malteserkreuz an seiner Brust und näherte sich ihm. Er schien nur ein Bein zu haben, bewegte sich jedoch mit bemerkenswerter Geschwindigkeit auf zwei kurzen Stöcken vorwärts. Ehe Tannhäuser Clementine herumreißen konnte, um ihn zu vertreiben, stürzte der kleine Hund zwischen ihren Hufen hervor und attackierte ohne ein warnendes Bellen das einzige Bein des Bettlers.
Der machte sich mit klappernden Stöcken aus dem Staub. Der Hund blieb mit stolz geschwellter Brust und glänzendem Goldhalsband stehen und beobachtete den Rückzug seines Gegners. Er wedelte mit seinem hässlichen rosa Schwanz und bellte verächtlich. Grégoire und Juste schauten zu Tannhäuser.
»Ihr seht, er ist außerordentlich intelligent«, meinte Juste.
»Vielleicht sogar intelligenter als Clementine«, fügte Grégoire
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