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Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
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hinzu.
    »Das ist jedenfalls keiner von uns dreien«, sagte Tannhäuser. »Aber in Paris muss ein Hund, der Bettler vertreibt, ein stolzes Sümmchen wert sein. Wie viel sie wohl im Hôtel-Dieu zahlen würden? Die Schwestern würden ihn vergöttern. Stellt euch vor, wie viel Zeit und Arbeit er ihnen ersparen könnte. Und wie viel Suppe sie nicht kochen müssten.«
    Grégoire und Juste schauten sich in Panik an.
    »Oder«, fuhr Tannhäuser fort, »wir könnten ihn als gute Tat der christlichen Nächstenliebe spenden.«
    Der Hund kehrte zurück und blieb zwischen den beiden Jungen stehen. Er schaute mit hängender Zunge zu Tannhäuser auf, als erwartete er eine Belohnung.
    »Aber, Herr, wie Ihr seht«, sagte Juste, »können wir ihn unmöglich verkaufen oder spenden, ehe sein Fell wieder ganz nachgewachsen ist.«
    »Das stimmt«, bestätigte Grégoire. »Die Schwestern würden niemals einen kahlen Hund nehmen.«
    »Das ist ein Argument«, gestand ihnen Tannhäuser zu. »Ich kann mir keinen Orden denken, der einen kahlen Hund aufnehmen würde. Bis sein Fell nachgewachsen ist, bleibt er also. Zeigt ihm, dass er uns einen guten Dienst geleistet hat.«
    Die Jungen tätschelten den Hund und zwinkerten einander voller Triumph und Erleichterung zu.
    »Wie wollt ihr ihn nennen?«
    Juste sagte: »Er heißt Luzifer.«
    »Das würde die sanftmütigen Schwestern sicher verstören.«
    »Der Name gefällt Euch nicht?«
    »Ich sorge mich, dass ich Eure moralische Ertüchtigung vernachlässigt habe.«
    »Meister, ich habe noch nie so viel so schnell gelernt. Grégoire auch, da bin ich sicher.«
    »Meister, es stimmt. Ihr seid ein großer Lehrer.«
    »Man kann auch viel von einem Hund lernen«, fügte Juste noch hinzu.
    »Haltet Augen und Ohren offen«, sagte Tannhäuser. »Vieles, was ihr hört, sind bestimmt nur Gerüchte, Phantasievorstellungen und Lügen, aber sammelt alle Fakten, die ihr bekommen könnt. Sagt selbst wenig, am besten gar nichts. Heute kann uns jeder Schritt, jedes Wort verraten.«
    Der Hund blaffte Tannhäuser an.
    »Luzifer ist ein großer Name für einen kleinen Hund.«
    »Er ist klein«, stimmte Grégoire zu. »Aber er hat das Feuer überlebt.«
    Auf dem Platz wurde Essen angeboten. Tannhäuser stieg vom Pferd und kaufte einen warmen Laib Brot für die Jungen. Sie rissen ihn mit solcher Begeisterung in Stücke, dass er auch zwei gebratene Tauben erwarb, die noch heiß auf dem Spieß steckten. Er schaute ihnen beim Essen zu. Die Burschen waren so hungrig, dass Grégoire Luzifer erst ein Bröckchen abgab, als das Essen schon halb verspeist war.
    Grégoire deutete auf einen Pferch in einer Seitenstraße, wo sie Clementine abstellen konnten. Als sie sich der Fassade der Kathedrale näherten, musterte Tannhäuser die unzähligen Figuren und mysteriösen Zeichen, mit denen das große Portal ursprünglich geschmückt gewesen war. Viele davon hatte man mit dem Hammer heruntergeschlagen, weil Priester zwar ihre Bedeutung nicht kannten, aber dennoch zu wissen meinten, dass sie nicht der christlichen Tradition entsprangen. Andere Symbole waren von hugenottischen Fanatikern zerschlagen worden.
    Tannhäuser trat durch das Portal mit dem Jüngsten Gericht in die Kathedrale ein.
    Er bekreuzigte sich mit Weihwasser, ersparte sich aber eine Kniebeuge. Nach der hellen Sonne erschien das Innere dunkel, und Tannhäuser wartete, bis seine Augen sich daran gewöhnt hatten. Als Erstes sah er einen Weidenkorb, in dem drei Säuglinge lagen,keiner mehr als einen Monat alt. Tannhäuser spürte, wie ihm der Schmerz die Brust verengte. Er wandte sich ab.
    Die hintersten Bänke der Kathedrale waren von Prostituierten besetzt, Männern und Frauen, etwas für jeden Geschmack. Mindestens zwei der Huren gingen gerade ihrem Gewerbe nach, beugten sich vor ihren keuchenden Kunden über die Bänke, während ihre Kolleginnen zuschauten, aus Langeweile oder weil man sie dafür bezahlt hatte. Vorn in der Kirche fand hinter dem Lettner ein Gottesdienst statt, aber die Entfernung war so groß, dass diese beiden Geschäfte einander nicht störten.
    »Ich habe auch in dem Weidenkorb gelegen«, sagte Grégoire.
    »Der Verlust deiner Mutter war unser Gewinn«, meinte Tannhäuser. Er schaute über das riesige und verzauberte Kircheninnere, in dem jeder Stein so behauen und gesetzt war, dass er eine oder mehrere ganz eigene Bedeutungen hatte.
    »Diese Kirche steckt voller Mysterien, die die Besten unter uns einmal begriffen haben, die wir aber nie wieder

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