Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
und Kerzenzieher, die sich auf dem Platz über die Ungerechtigkeit des Lebens und insbesondere das von Hand der Hugenotten erlittene Unrecht ereiferten. Es war Sonntagmorgen, sie waren die halbe Nacht auf den Beinen gewesen, vermissten ihre Frauen und ihre Betten, und niemand hatte ihnen Befehle gegeben.
    Trotz La Fosses Liste und Hervés Begeisterung konnte Tannhäuser kaum glauben, dass man ernsthaft versuchen würde, alle Protestanten von Paris umzubringen. Nichts, was er von Retz oder Arnauld gehört hatte, legte nahe, dass der König einen solchen Wunsch oder eine solche Absicht gehegt oder gar ausgesprochen hatte. Allem Vernehmen nach hatte der König davor zurückgeschreckt, Coligny töten zu lassen. Tannhäuser war sich sicher, dass ein solcher Gedanke auch niemand anderem im Louvre gekommen war, aus dem schlichten Grund, dass so etwas keinen militärischen Zweck erfüllen und eine politische und finanzielle Katastrophe heraufbeschwören würde. Retz und Catherine waren so skrupellos, wie die Umstände es erforderten, aber ihr politisches Geschick war unbestritten. Ein Jahrzehnt lang überlisteten sie nun schon die besten Diplomaten aus einem halben Dutzend Ländern und zwei Kaiserreichen. Die Vorstellung, einen Großteil der gebildetsten und produktivsten Bürger der Stadt auszumerzen – und weswegen? –, musste ihnen und ihrer Umgebung, sogar Guise und Anjou, doch als heller Wahn erscheinen.
    Außerdem war dieses Vorhaben praktisch nicht durchführbar. Es ließ sich machen, aber so viele zu identifizieren, zu verhaften und hinzurichten, das würde Tage, ja Wochen dauern. Dazu wären richtige Truppen vonnöten, nicht dieser elende Haufen. Man bräuchte die Zustimmung des Gouverneurs, Montmorency, der ein gemäßigter Katholik war, und die vieler geringerer Offiziere und Beamten, die genauso wenig wie er bereit sein würden, das Blut Tausenderehrbarer Bürger und deren Familien auf sich zu nehmen. Man müsste jegliche Rechtsordnung verlassen und das Parlement , die Ratsherren und die Rechtsanwälte als Komplizen gewinnen, die an Zahl die Militärs weit übertrafen. Die zivilisierteste Stadt der Welt müsste dazu gebracht werden, äußerste Grausamkeit und Schande gutzuheißen, die trotz der alltäglichen Grausamkeiten auf den Straßen alles übertreffen würde, was ihr bekannt war. Derlei wahnwitzige Gewalt übertraf sogar Tannhäusers Vorstellungsvermögen. Und er bezweifelte, dass irgendjemand in Paris so viel Blutvergießen gesehen hatte wie er.
    Er verstand die Beschwerden ansonsten ehrlicher Handwerker wie Hervé. Er begriff, welche Gelegenheiten diese Situation Kriminellen bot. Es würde eine Unmenge von Raubüberfällen und Morden geben. Einige Privatfehden würden auf diese Art beigelegt werden. Mit den Morden würden alle möglichen Schulden getilgt. Es würde viel geredet und geprahlt werden. Aber sicherlich nicht mehr als das. Der König hatte die Zähne gezeigt. Er hatte seine politischen Feinde dahingemetzelt. Er hatte seine Autorität bestätigt. Er hatte den Glauben seiner Väter aufrechterhalten. Man würde ein Te Deum singen, die Stadt würde ihn mit Lob überhäufen, und seine Untertanen würden sich wieder ans Geldverdienen begeben.
    Applaus brandete aus der Menschenmasse auf der Place de Grève auf. Tannhäuser schaute sich um und sah die Galgen. Wie um die Niedrigkeit ihrer Gedanken zu bestätigen, zuckte eine einsame Gestalt am Ende eines Stricks, der Körper ein Schandfleck vor der gerade aufgegangenen Sonne. Er schwang mit zappelnden Beinen und zuckendem Leib hin und her. Nicht einmal das hatten sie richtig gemacht.
    Tannhäuser verachtete die Männer auf dem Platz. Und doch war er ihnen nur überlegen, weil er geschickter und erfahrener im Umgang mit Waffen war.
    Verzweiflung nagte an seinem Herzen. Er war erschöpft. Seine Gedanken waren dumpf. Außer, dass er seine Sachen aus dem Haus des Druckers zurückholen wollte, hatte er keinen Plan. Schlimmer noch, er hatte keine Sehnsüchte, keinen Ehrgeiz mehr. Ohne Carla hatte all das keinen Sinn mehr. Wut stieg in ihm auf, ebbte wieder ab. Es gab Rätsel zu lösen, Blutschuld zu begleichen, aber es verlangteihn nicht danach. Carlas Tod hatte ihm jeden Mut genommen. Er hatte genug Rache geübt, um zu wissen, dass man damit nur die schlimmsten Seiten in sich zum Vorschein brachte und die besten vergiftete. Er versuchte, Hass auf die Mörder zu empfinden. Aber die Place de Grève war schon nichts als brodelnder Hass, und damit wollte er

Weitere Kostenlose Bücher