Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Fraktionen zerfällt. Und alle verfolgen sie ihre eigenen Ziele. Wie wir auch. Was ist Euer Ziel?«
Tybaut ballte sein Hemd zusammen und warf es Juste zu.
»Ich hoffe, es ist nicht verlaust«, sagte Tannhäuser.
»Ich bin sehr pingelig, was Flöhe, Läuse und Zecken angeht.Auch bei den Mädchen da werdet Ihr keine finden. Ich passe auf sie auf, Sire, und Ihr seht, sie gedeihen prächtig. Für einen weißen Franc könnt Ihr sie immer noch haben. Oder Eure Jungen, wenn die ihre Unschuld verlieren wollen. Für den Idioten verlange ich keinen Aufpreis. Das ist mein Angebot. Ich habe den kleinen Lämmern selbst jede wohlbekannte Verderbtheit beigebracht und ein paar selbst erfundene.«
»Gib mir den Schlüssel.«
Tybaut reichte ihn herüber.
Tannhäuser zog einige Münzen hervor. »Hier hast du noch einen Sol. Wenn ich wieder herunterkomme, möchte ich, dass deine Mädchen dort auf der Bank sitzen und etwas Warmes zu essen haben. Sonst behalte ich den Schlüssel.«
Tybaut nahm die Münzen. »Brot und heiße Suppe soll es sein, Sire.«
»Gebratene Tauben.«
»Die Mädchen segnen Euch.«
Tannhäuser stieg die Wendeltreppe hinauf, ohne stehenzubleiben oder seinen Schritt zu verlangsamen. Seine Schultern streiften die Wände. Die Gesichter der Zwillinge gingen ihm nicht aus dem Kopf. Er musste an Carla denken. Die beiden hätten ihr Mitleid erregt. Aber die Welt würde Carlas Mitleid nicht mehr kennen. Er trat auf eine außen verlaufende steinerne Brücke zwischen den beiden Glockentürmen. Er schaute nicht auf die Stadt oder den Vorplatz hinunter. Er ging zum Fuß des nördlichen Turms, wo er ein Törchen sah. Es war nicht verschlossen.
Er stieg eine zweite, noch engere Treppe hinauf. Seine Brust brannte. Sein Rücken schmerzte. Seine Waffen schrammten an den Steinen entlang. Sein Schweiß floss in Strömen. Die Anstrengung löschte alles in ihm aus, außer Carlas Bild. Als er oben war, fühlte er sich völlig leer.
Eine Brise wehte ihm ins Gesicht. Sie war beinahe kühl und roch nach brennender Holzkohle. Er lehnte die Stirn an die Steine und holte tief Luft. Dann machte er den letzten Schritt. Er kletterte auf die Brüstungsmauer.
Er schaute hinunter.
Tief unter ihm wimmelte und wankte die Stadt.
Paris.
Er erhaschte einen Blick auf das Wesen der Stadt. Sie hatte ihm das Herz herausgerissen und nichts zurückgelassen.
Luzifer sprang neben ihm auf die Brüstung. Er blickte mit dem Hochmut eines Besitzers über die stinkende Metropole da unten. Er schaute Tannhäuser an.
»Bist du gekommen, um mir meine Seele abzukaufen?«, fragte Tannhäuser.
Das Geschöpf kläffte einmal.
»Die ist wohl schon verkauft«, antwortete Tannhäuser.
»Meister?«, flüsterte Grégoire.
Tannhäuser hörte die Besorgnis in seiner Stimme. Er trat von der Brüstungsmauer herunter.
Grégoire sackte erleichtert an den Türpfosten. Juste kam angekeucht.
»Keine Angst«, sagte Tannhäuser. »Früher oder später finde ich eine andere Todesart.«
Wieder bemerkte er die nutzlosen roten Schuhe, die Grégoire sich um den Hals gehängt hatte.
»Wenn ich die noch einmal sehe, werfe ich sie von hier oben herunter.«
Grégoire verbarg die Schuhe hinter dem Rücken.
»Hier, schaut euch das an.«
Tannhäuser zog La Fosses Karte hervor und faltete sie auseinander. Er setzte seine neue Brille auf. Das Papier war feucht, die Tinte war verlaufen, aber beides war von so guter Qualität, dass man die Karte noch gut lesen konnte. Sie war präzise, gab aber keine Anhaltspunkte über Entfernungen. Die Stadt war klein, doch sobald man durch ihre Tore trat, wurde sie grenzenlos. Jede Meile erschien, als wären es zehn. Vom Turm aus gesehen wirkte die Stadt wie ein riesiger Fleck, der sich über das Ackerland ausbreitete, das sich von ihren Vorstädten in alle Richtungen erstreckte. Dort schmiegten sich Dörfer in Kornfelder, die reif für die Ernte waren. So weit sich der blaue und grüne Horizont erstreckte, flirrte das Bild. Es schien eine andere Welt zu zeigen. Das war es auch. Da draußen war die Welt, innerhalb der Mauern war Paris.
Mit Grégoires Hilfe fuhr er auf der Karte den Weg nach, den er seit seiner Ankunft an der Porte Saint-Jacques zurückgelegt hatte. Kein Abschnitt war lang, und doch schien es, als hätte die Reise Odysseus zur Ehre gereicht. Er begriff auch, welch kleinen Teil der Stadt er bisher gesehen hatte. Selbst ohne Einwohner hätte man Paris nie erfassen können. Wimmelnd von Menschen, wandelte die Stadt sich von einem
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