Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Ruhe vor dem Sturm gewesen. Das Menschenrudel hatte beschlossen, dem Blutgeruch nachzugehen. Alle Könige fürchteten die Anarchie. Dieser König hatte der Bestie Tür und Tor geöffnet. Nun kroch sie hervor.
Tannhäuser schaute Juste an. »Ich sag’s dir noch mal. Zieh die Kleider des Kupplers an.«
»Das Feuer ist im sechzehnten Bezirk, das muss in der Nähe des Druckers sein«, sagte Grégoire.
Seine Aufmerksamkeit war noch auf die südwestliche Biegung der Stadtmauer gerichtet.
Tannhäuser sah, dass der Rauch plötzlich dichter wurde. Er drückte Grégoire eine Münze in die Hand. »Bring Clementine zum Vorplatz. So schnell du kannst.«
KAPITEL 13
A LICE
Sie saßen einander an einem Tisch in der Küche gegenüber und tranken Hagebuttentee. Die Küche lag vorn im Haus. Die Sonne stand so hoch am Himmel, dass sie in den Hof und zu den Fenstern herein schien. Der Tee war erfrischend in der zunehmenden Hitze.
Carla konnte die Augen nicht von der alten Frau wenden.
Alice war grobknochig, einst wohl mollig, aber nun nach vielen Jahren und einem harten Leben geschrumpft. An Armen und Wangen hing ihr die Haut in runzeligen Falten. Ihr Gesicht war breit, die Wangen mit violetten Adern durchzogen. Der Mund war voll, die Lippen von der Farbe von Leder und über den Kiefern zusammengesunken, wo Zähne fehlten. Ihr Haar war von einem dunklen, rötlichen Braun, mit Grau durchzogen und knapp oberhalb der Schultern abgeschnitten. Ihre Augen waren wintergrau. Eine tiefe Müdigkeit lag in dieser Frau, aber auch die Glut einer Naturkraft, die einmal ungeheuer gewesen sein musste. Carla konnte nicht sagen, wie alt sie sein mochte: mindestens sechzig, vielleicht siebzig oder gar älter. Obwohl sie in sich zusammengesunken war, schien Alice doch alle Zeit überwunden zu haben.
»Zeit ist ein Märchen, meine Liebe«, sagte Alice, als hätte sie ihre Gedanken gelesen. »Ein Gefängnis ohne Mauern. Die waren schlau, die uns dazu gebracht haben, an die Zeit zu glauben, Kalender, Datum, das Jahr des Herrn, weniger geht nicht. Und all das soll uns ruhig halten, nicht wahr? Jetzt haben sie Uhren, damit sie uns auch noch an die Kette legen können.«
Carla wusste nicht, wie sie reagieren sollte. Sie saß in einer Räuberhöhle der Mutter eines Mannes gegenüber, der ohne Skrupel alle und jeden umbringen konnte. Alice lachte trocken, aber so warmherzig, dass kein Spott darin lag.
»Hier brauchst du keine Angst zu haben, meine Liebe. Sag deine Meinung. Du wirst sie heute noch sehr laut herausschreien, ehe der Tag vorüber ist. Und diese Frau hier wird hinter dir aufwischen. Also keine Förmlichkeiten.«
»Ich weiß es zu schätzen, dass Ihr mich aufnehmt, Madame, mehr als ich mit Worten sagen kann.«
Alice wedelte abwehrend mit der Hand. Die Handfläche glänzte rot.
Carla begriff, dass Alice nicht nur müde, sondern alles andere als gesund war, und sie tat ihr von Herzen leid. Nie in ihrem Leben hatte Carla vor einer Frau Ehrfurcht verspürt. Ihre eigene Mutter war schwach und fügsam gewesen, hatte sich vor ihrem Mann, der Kirche und der Meinung anderer gefürchtet. Sie hatte ihr Leben buchstäblich auf Knien verbracht und war voller Reue gestorben. In einer ähnlichen Situation hatte Carlas Mutter sie verraten, sich an der Entführung Orlandus am Morgen seiner Geburt beteiligt. Sie hatte Carla ihrer Mutterschaft beraubt.
Carla langte zu ihrem Koffer hinunter, aber ihr Bauch geriet in den Weg. Sie schob den Stuhl zurück, stand auf und ging in die Hocke. Im Koffer fand sie einen Flakon mit Parfüm und wickelte ihn in ein Seidentuch, das die Farbe des Himmels hatte. Sie hatte das Tuch gekauft, weil es genauso blau war wie Mattias’ Augen. Als sie sich aufrichtete, schoss ihr ein Schmerz durch den Körper. Sie legte das Bündel auf den Tisch und stützte sich mit den Händen auf den Knien ab. Sie atmete so tief, wie sie konnte, und musste all ihren Stolz zusammennehmen, um nicht aufzuschreien. Sie spürte, dass Alice sie abschätzend ansah. Die alte Frau sagte nichts, und Carla bedauerte das nicht. Ihre vorige Hebamme hatte sie mit einem solchen Schwall nutzloser Anweisungen überschüttet, dass sie ihr befehlen musste, den Mund zu halten. Der Schmerz ebbte ab. Sie richtete sich auf und rang sich ein Lächeln ab, das Alice erwiderte.
»Wieder eine Wehe, die du nicht noch mal durchmachen musst.«
»Ich frage mich, wie viele noch.«
»Besser nicht, Liebes. Es werden mehr sein, als du zu denken wagst. Vergiss sie, bis die
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