Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Die Blutnacht: Roman (German Edition)

Titel: Die Blutnacht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Tim Willocks
Vom Netzwerk:
nächste kommt, und dann gleitest du hindurch wie Cleopatras Barke auf einem Fluss aus Eselsmilch.«
    »Manchmal fürchte ich, dass meine Kraft nicht ausreicht.«
    »Auf der ganzen Welt gibt es nichts Stärkeres als eine Frau in den Wehen. Wenn Mutter Natur uns nicht so gemacht hätte, wäre keiner von uns am Leben. Sobald großes Getue nötig ist, machen wir es, keine Sorge. Aber warum sollten wir es uns in der Zwischenzeit nicht gutgehen lassen?«
    Alices Vertrauen auf ihrer beider Kraft linderte Carlas Furcht wie ein Balsam. Sie spürte, wie ihr ein Stein vom Herzen fiel. Diese heftige Reaktion gab ihr gleich Zweifel ein, ob sie weise gehandelt hatte. Sie hatte keinen Grund, dieser seltsamen alten Frau ihr Leben und das ihres Kindes anzuvertrauen. Außer ihrem Instinkt und der Kraft der alten Frau. Die stand außer Frage, denn schließlich hatte Alice hier überlebt, hier in Cockaigne. Carla erinnerte sich daran, dass auch sie alles Mögliche überdauert hatte. Sie verwarf alle Zweifel. Sie waren nichts als Angst in ihrer tückischsten Form, ihr schlimmster Feind. Sie lächelte.
    »Ein wunderbarer Plan. Ja, warum nicht?«
    Sie hielt der anderen Frau ihr Bündel hin.
    »Was ist das?«
    »Für Euch, Madame. Ein kleines Geschenk.«
    Alice wischte sich die Hände am Rock ab, nahm das Bündel und packte es aus. Sie strich sich zärtlich mit dem Seidentuch über die Wange, wusste seine Qualität zu schätzen. Sie betrachtete den Flakon, nahm den Glasstöpsel heraus und hielt ihn sich unter das Kinn.
    »O je.« Sie tupfte sich mit dem Stöpsel hinter die Ohren. »Das ist viel zu fein für dieses alte Mädchen. Man wird mich noch für die Königin von Saba halten.«
    »Unsinn. So gut wie in diesem Haus riecht es sonst nirgends in Paris. Zum ersten Mal kann ich hier frei atmen. Bitte nehmt es an.«
    »Unsinn? Nun gut. Danke. Aber das Tuch musst du behalten.«
    »Das Tuch gehört Euch auch.«
    »Nein, nein, genug ist mehr als genug. Du kannst dir damit die Brust abwischen, wenn du dein Kind stillst. Hast du es dafür nicht mitgebracht?«
    Carla nickte. Sie nahm das Tuch und legte es sich um den Hals.
    »Für den Zweck hättest du eine dunklere Farbe wählen können, aber hier wird sich niemand darum scheren. Setz dich wieder hin und sag mir, was du sagen wolltest.«
    »Ihr habt erklärt, dass die Zeit ein Märchen ist, aber ist Zeit nicht Teil unserer sterblichen Existenz?«
    »Nein, das ist sie nicht. Mutter Natur kümmert sich nicht um Zeit, wenn auch die himmlischen Sphären fallen wie Äpfel. Warte nur ab, eines Tages wirst du an meine Worte denken.«
    Carla trank einen Schluck Hagebuttentee. Sie dachte an Mattias und seine mystischen Vorstellungen.
    »Ich bin solchen Gedanken nicht abgeneigt. Aber doch gibt es den Lauf der Jahreszeiten.«
    »Ja, den Lauf der Jahreszeiten und den der Sterne, ein Rad, das sich ohne Unterlass dreht. Die kennen weder Monat noch Jahr noch Anfang noch Ende, denn es gibt kein Ende. Es gibt immer nur das, was als Nächstes kommt. Wie viel Zeit ist in einem Traum? Oder in der Erinnerung ? Oder in einer Umarmung ? Solange wir das nicht beantworten können, wie können wir da sagen, wie viel Zeit in einem Leben ist?«
    »Die Bibel sagt, dass Gott die Welt in sechs Tagen erschaffen hat.«
    »Und wer hat die Bibel geschrieben? Narren. Denn wozu sollte Gott Tage brauchen?«
    Alice lachte spöttisch. Carla musste ein Lächeln unterdrücken.
    »Das ist ein starkes Argument.«
    »Dann lass dir von dieser alten Heidin ein noch stärkeres sagen: Gott hat uns auch nicht geschaffen. Unsere Mutter Erde hat uns geschaffen, genau wie sie die Blätter auf den Bäumen und die Vögel in der Luft geschaffen hat. Wie sie alles Lebendige schafft, schon immer geschaffen hat. Eine Rippe, sagen sie uns? Hölle und Teufel! Hat Gott die Sau aus der Rippe eines Ebers gemacht? Kein Wunder, dass Er sechs Tage gebraucht hat.«
    Carla lachte, und Alice fiel mit ein, schlug mit ihren geschwollenen Knöcheln auf die Tischplatte.
    »Diese Bibel hat meinem Sohn alle möglichen Ideen über Blutvergießen und Verbrechen in den Kopf gesetzt, und in diesen Dingenbrauchte er wirklich keine Unterstützung. Er ist kein Gelehrter, er findet nur großen Geschmack an haarsträubenden Geschichten und seltsamen Ideen. Wenn wir schon von Zeit sprechen müssen, dann wurde die Bibel gestern geschrieben, und eines nicht zu fernen Tages werden alle Bibeln, die je gedruckt wurden, wieder von dem Dreck verschlungen werden, aus dem sie

Weitere Kostenlose Bücher