Die Blutnacht: Roman (German Edition)
Augenblick zum nächsten.
Er suchte und merkte sich verschiedene Wahrzeichen. Unter ihm lag ein Häusermeer, und nicht zwei unter den Zehntausenden von Dächern schienen gleich hoch zu sein. Ein Gebäude schien auf das andere gestapelt, als wäre die Stadt von einem Kleinkind aufgetürmt worden, in der Hoffnung, dass sie bald zusammenstürzte. Die Sonne hatte das Moos auf den Dächern gebleicht. Die schiefen und krummen Mauern zu beiden Seiten verbargen alle Straßen außer wenigen breiten Alleen, die auch kaum dreißig Fuß breit waren.
Jenseits der westlichen Mauer des Quartier Latin befand sich die Abtei von Saint-Germain. Die anderen ausgedehnten Vorstädte, die sich im Norden und Süden rings um die Stadtmauern und Gräben ausbreiteten, waren jämmerliche Ansammlungen billiger Hütten, in die sich die ärmeren Handwerker zurückgezogen hatten. Die Insel unten war so dicht bebaut, dass man selbst von dieser hohen Warte aus die Seine nicht sehen konnte.
Nordöstlich vom Hôtel d’Aubray stand die große Festung des Tempels, des Haupthauses von Tannhäusers Orden. Sie hatte weiße Mauern, und der Bergfried und die Ecktürme trugen schwarze Kegeldächer. Rings um die Festung lag ein mit einer hohen Mauer, Wachtürmen und Wassergräben umgebenes Gelände von etwa dreißig Morgen.
Tannhäuser steckte die Karte und die Brille weg.
»Können wir nicht hier oben bleiben?«, fragte Juste. Er lehnte sich über die Brüstung. »Ein paar Tage? Wir könnten Essen und Wasser holen. Wer würde davon erfahren? Wen würde es scheren?«
»Ich brauche meine Gewehre. Ich muss mich um Carlas Leichnam in der Kirche kümmern. Sie ist einem Anschlag zum Opfer gefallen. Ich muss herausfinden, warum.«
»Tybaut hat recht«, sagte Juste. »Sie werden mich umbringen.«
Er deutete auf den Pont Notre-Dame. Tannhäuser schaute hinunter.
Von hier oben konnte man die nordwestliche Seite der Straße sehen. Das Sonnenlicht glitzerte auf dem Ladenschild des Goldenen Hammers. Darunter stand eine Gruppe schwarz gekleideter Menschen, den Rücken zum Schaufenster, die Hände erhoben. Es waren vielleicht acht, offensichtlich eine Familie. Eine Fahne tauchte in der Nähe auf. Eine Reihe von Milizsoldaten erschien. Es gab eine kurze Pause. Dann stachen sie in plötzlichem Wirbel die ganze Familie mit ihren Speeren nieder, bis nur noch ein Haufen schwarzer Lumpen vor dem Schaufenster zu liegen schien. Von so weit weg gesehen, verliefen die Morde seltsam geräuschlos, aber Tannhäuser sah, wie sich die Münder der Sterbenden zu Schreien öffneten.
»Kann ich allein hier oben bleiben?«, fragte Juste. »Mit Luzifer?«
»Nein. Zieh das Hemd und das Wams an und behalte das weiße Kreuz.«
Tannhäuser ging um die Ecke der Brüstung, um einen besseren Blick auf den Norden zu bekommen. Die Place de Grève hatte sich zur Hälfte geleert. Die regulären Truppen und die Artillerie waren noch da, aber verschiedene Gruppen der Bürgermiliz wanderten in alle Richtungen fort.
»Meister?«, rief Grégoire.
Tannhäuser kehrte zu Grégoire zurück, der auf eine Rauchsäule zeigte, die in der südwestlichen Ecke des linken Flussufers zwischen den Dächern aufstieg. Der Rauch hing in einer kleinen Wolke in der heißen, reglosen Luft, und er schien von der Straße, nicht von einem Gebäude zu kommen. Da wurde Tannhäuser durch den Lärm eines Tumultes unten auf dem Vorplatz abgelenkt.
Der Platz war in Aufruhr. Die Straßengaukler und Händler packten ihre Sachen und traten mit der gut organisierten Eile derer, die eine Gefahr wittern können, den Rückzug an. Selbst die Bettler verließen ihre umkämpften Plätze am Zugang zur Kathedrale.
Eine wilde Bande von Milizsoldaten kündigte ihre Ankunft mit drei Fahnen und so viel Getöse an, wie zwei Trommler und ein Pfeifer machen konnten. Ein großer bärtiger Mann mit einem stählernen Helm ging voraus und bewegte sein Schwert im Takt der Musik.Die anderen bewaffneten Milizmänner bildeten hinter ihm ein Rechteck, das die ganze Straßenbreite einnahm. Im Inneren des Rechtecks führten sie eine Gruppe hugenottischer Gefangener in charakteristischem schwarzen Gewand mit.
Die Gefangenen waren Männer und Frauen, Alte und Junge, Familien, die man aus ihren Häusern gezerrt hatte, insgesamt sechzig bis achtzig. Manche sangen mit jämmerlicher Stimme Psalmen, die man schwach über dem Trommeln hörte, bis Rippenstöße mit dem Speergriff sie zum Schweigen brachten.
Die ungute Stille der letzten beiden Stunden war die
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