Die Borgia: Geschichte einer unheimlichen Familie (German Edition)
Entwicklung immer jünger wurden. Ihre älteren und geistlicher ausgerichteten Kollegen beobachteten diese Entwicklung mit tiefem Unbehagen. Spätestens seit 1471 war der Senat der Kirche über diese Fragen tief gespalten.
Dazu trug auch die rasante Steigerung des päpstlichen Nepotismus bei, die sich nach dem Tod Calixtus’ III. fortsetzte. Dessen Nachfolger Pius II., der der vornehmen sienesischen Adelsfamilie der Piccolomini entstammte, versorgte eine große Schar von leiblichen oder adoptierten Neffen mit Adelstiteln und Gütern. Vor allem aber betrieb er einen Personenkult in eigener Sache, der alle Maßstäbe und Vorstellungen sprengte. So ließ er seinen bescheidenen Geburtsort Corsignano südlich von Siena in «Pienza» umbenennen und mit einem prachtvollen neuen Mittelpunkt versehen. In das ockerfarbene Gassengewirr des Hügeldörfchens wurde ein Baukomplex aus strahlend hellem Material eingefügt: Im Mittelpunkt dieser Pius-Verherrlichungs-Stadt steht eine Kathedrale, die durch ihren Stil und ihre Ausstattung zum Erinnerungsraum ihres Bauherrn, ja als ewiges Museum seines gottgewollten Aufstiegs zur höchsten Würde der Kirche, ausgestaltet wurde. Ein gigantischer Familienpalast zeigte, wem dieser Rang zukam, und davor wurde ein Platz angelegt, der niemals überbaut werden durfte und auf diese Weise das Gedächtnis des Papstes für alle Zeit weihevoll bewahren sollte.
In diesem Stil ging es unter Papst Sixtus IV. (1471–1484), der mit Familiennamen Francesco Maria della Rovere hieß, weiter. Dieser Papst entstammte dem Kleinbürgertum einer ligurischen Provinzstadt und war im Franziskanerorden als sittenstrenger Prediger und profilierter Theologe bis zum Ordensgeneral aufgestiegen. Mit der Wahl eines solchen Außenseiters versuchten die im Konklave versammelten Kardinäle wieder einmal eine Blockadesituation zu beheben; zudem hoffte die konservative Reformpartei auf einen Pontifikat, der Zeichen der sittlichen und geistlichen Erneuerung setzen würde. Doch es kam anders. In seiner dreizehnjährigen Regierungszeit brach der Della-Rovere-Papst alle bisher gültigen Normen der Familienförderung und der zu diesem Zweck betriebenen Politik. Er ernannte insgesamt sechs Verwandte zu Kardinälen und gewann für seinen weltlichen Nepoten Girolamo Riario sogar ein eigenes Herrschaftsgebiet in der Romagna. Doch damit nicht genug. Gegen Ende seiner Regierungszeit plante er wie schon Calixtus III., das Königreich Neapel für seine Nepoten zu erobern, und zwar unter Aufbietung aller politischen Ressourcen: Um die Republik Venedig für diesen Krieg im alleinigen Interesse seiner Familie zu gewinnen, bot er dieser die Hoheit über das Herzogtum Ferrara an, also einen päpstlichen Herrschaftstitel. Die geplante Eroberung kam zwar unter Sixtus IV. genauso wenig zustande wie 1458 unter Calixtus III., doch durfte Kardinal Rodrigo Borgia seinen Onkel und sich selbst dadurch im Nachhinein bestätigt, ja gerechtfertig fühlen. Auch Sixtus IV. führte sein Amt ganz überwiegend im Interesse seiner Nepoten; dadurch war ein Beispiel gegeben, auf das man sich bei passender Gelegenheit berufen konnte.
Das galt auch für den Lebensstil der Papstneffen in Rom. Die beiden meistbegünstigten Kardinäle, Pietro Riario und Giuliano della Rovere, traten wie königliche Prinzen auf; sie bauten sich nicht nur prunkvolle Paläste, sondern richteten Feste aus, die in Sachen Raffinesse und Luxus die Bankette von Fürsten in den Schatten stellten. Das alles finanzierten sie nicht nur mit den üppigen Erträgen ihrer zahlreichen Ämter und Pfründen, sondern immer häufiger auch auf Rechnung der Apostolischen Kammer, des päpstlichen Finanzministeriums. Nepotismus war der höchste Staatszweck, dass der Kirchenstaat dafür aufkam, entbehrte nicht der Logik.
Alle diese Entwicklungen und Zeiterscheinungen beobachtete Rodrigo Borgia sehr genau, und zwar mit Genugtuung. Mit allen diesen Tendenzen arbeitete ihm der Zeitgeist entgegen. Welchem weltanschaulichem Lager der spanische Kardinal angehörte, machte sein Lebensstil überdeutlich: Er positionierte sich konsequent im hedonistischen Feld des Spektrums und wurde geradezu zum Vorreiter und Wortführer einer weiteren Lockerung von Normen und Verhaltensstandards. Diese Parteinahme war so eindeutig, dass nach seiner Wahl niemand guten Gewissens behaupten konnte, er habe nicht gewusst, wofür dieser Kirchenfürst stand und was von ihm als Papst zu erwarten war. Borgias Chancen, so hoch
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