Die Botschaft des Feuers
die Botschaft meiner Mutter in dem Wandteppich?«
»Ja«, sagte Wartan.
»Auf dem Wandteppich«, fuhr ich fort, »trägt doch das Buch, das der Engel in der Hand hält - so wie die ›Geschenke‹, die Hestia verteilt - ebenfalls eine Aufschrift, oder?«
» Phos «, erwiderte Wartan. »Das bedeutet ›Licht‹.«
Wir beide blickten an der steilen Mauer aus Findlingen hoch, hinter der die Sonne gerade unterging.
»Kannst du klettern?«, fragte ich.
Wartan schüttelte bedauernd den Kopf.
»Aber ich. Dann schätze ich mal, dass die Botschaft nur für mich bestimmt ist.«
Knapp eine Stunde später saßen wir allein im oberen Gastraum des Sutalde an einem Tisch mit Blick auf den Sonnuntergang, der die Brücke und den Fluss in goldenes Licht tauchte. Ich hatte mir drei Fingernägel abgebrochen und ein Knie aufgeschürft, aber die Kletterpartie ansonsten gut überstanden.
Auf einem dritten Stuhl neben uns lag mein Rucksack, den ich Wartan von der Garderobe heruntergereicht hatte. Darin befand sich immer noch der Zettel mit den Koordinaten der vergrabenen Figuren, aber mittlerweile auch der Versandzylinder mit der Schachbrettzeichnung der Äbtissin, die wir auf dem Rückweg auf der Poststelle abgeholt hatten.
Auf dem Tisch zwischen uns stand ein dekantierter Châteauneuf-du-Pape mit zwei Weingläsern und daneben die schwere Figur, fünfzehn Zentimeter groß, über und über bedeckt mit Edelsteinen, unter denen ein Smaragd fehlte: die schwarze Dame.
Und noch etwas hatte ich dort oben zwischen den Felsen gefunden, verstaut in einem wasserdichten Behälter. Wartan rückte ein bisschen näher, damit wir es gemeinsam begutachten konnten. Es war ein Buch, geschrieben auf Lateinisch, offenbar eine Kopie des Originals, mit interessanten Illustrationen, die allerdings, wie Wartan bemerkte, später hinzugefügt worden sein konnten. Es war offensichtlich eine mittelalterliche Übersetzung eines älteren arabischen Buchs.
Das Buch der Balance .
Auf die Innenseite des Deckels hatte der ehemalige Besitzer seinen Namen geschrieben: Charlot .
» Lass dich von keinem Zweifel behindern« , übersetzte Wartan. »Man fügt Feuer hinzu und erhitzt den Gegenstand so stark wie nötig, aber ohne ihn zu verbrennen - wodurch er vernichtet würde. Auf diese Weise erlangt der Körper, der dem Feuer ausgesetzt wird, sein Gleichgewicht und erreicht den gewünschten Zustand.«
»Al-Dschabir beschreibt hier, wie das Elixier hergestellt wird«, sagte Wartan. »Aber seine Betonung scheint immer auf dem Gleichgewicht zu liegen, auf der Balance zwischen den vier Elementen Erde, Luft, Wasser und Feuer, auf der Balance in uns selbst und ebenfalls der zwischen uns und der natürlichen Welt. Ich wüsste nicht, was an der Idee gefährlich sein sollte.« Dann fügte er hinzu: »Glaubst du, deine Mutter hat dir das Buch überlassen, weil sie möchte, dass du nicht nur die Figuren findest, sondern auch dieses Problem löst?«
»Ganz bestimmt«, antwortete ich, während ich uns Wein einschenkte. »Aber wie kann ich so weit im Voraus denken? Noch vor einer Woche fühlte ich mich von meiner Mutter völlig entfremdet und glaubte, mein Vater sei tot. Ich hielt dich für meinen ärgsten Feind und mich für eine Hilfsköchin mit einem vorhersehbaren, geordneten Leben, die nie wieder Schach spielen würde, selbst wenn ihr Leben davon abhinge.
Jetzt muss ich feststellen, dass mein Leben vielleicht tatsächlich davon abhängt. Aber ich kann nicht mal mehr die nächsten zehn Minuten vorhersehen. Alles, was ich bisher für die Wahrheit hielt, wurde gründlich auf den Kopf gestellt. Ich weiß überhaupt nicht mehr, was ich denken soll.«
» Ich weiß, was ich denken soll«, erwiderte Wartan lächelnd. »Und du weißt es auch.«
Er klappte das Buch zu, nahm meine Hände und drückte mir ganz sanft einen Kuss auf die Stirn. Als er sich wieder zurücklehnte, sagte er: »Wie hättest du dich auf die Zukunft konzentrieren können, solange du deine Vergangenheit nicht geklärt hattest? Ist es deine Schuld, dass die ›Klärung‹ dazu geführt hat, dass sich jetzt alles, was du für Wahrheit gehalten hast, als Illusion erweist?«
»Aber was kann ich denn nach alldem überhaupt noch glauben?«, fragte ich.
»Tja«, erwiderte Wartan, »nach allem, was Rodo uns gestern Abend erzählt hat, scheint glauben allein nicht zu reichen, wenn es um uralte Weisheit geht. Ich denke, das ist die Botschaft dieses Buchs, das deine Mutter dir hat zukommen lassen, die Botschaft, die
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